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Warum es wichtig ist, sich zu schämen

Foto: m.edi / photocase.de

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Meistens passiert so was ja, wenn man grade gute Laune hat und übermütig wird. Ich zum Beispiel habe neulich fröhlich jemandem am Aufzug verabschiedet, "bis bald", "schön, dass du da warst", "komm gut heim", der Aufzug kam, drin eine Gruppe ernsthafter Aufzugfahrer, der andere stieg ein. Ich wollte noch winken, aber mich auch schon auf den Rückweg ins Büro machen – und lief mit voller Wucht statt durch die Glastür gegen die Glastür. Aus dem Aufzug starrten mich die ernsthaften Aufzugfahrer an. Keiner regte sich, nicht das leiseste Lächeln konnte ich sehen. Mir wurde sehr heiß und in meiner Verzweiflung rief ich auch noch "Wow, das war cool!", bevor sich die Aufzugtür ganz schloss. Dahinter fremde Menschen, die ich nicht kannte, aber denen ich jederzeit begegnen kann. Im Aufzug zum Beispiel. 

Zurück im Büro tobte ich ein bisschen herum, wie peinlich das gewesen sei und wie schrecklich es mich nerve zu wissen, dass ich die heiße Scham jedes Mal wieder spüren werde, wenn ich an diesen Moment zurückdenke. Das Schöne war: Alle Kollegen im Raum stimmten mir zu. Ja, sagten sie, stimmt, Scham ist immer gleich schlimm. Scham nervt extrem. Scham ist vielleicht das nervigste und hemmendste Gefühl überhaupt und sie kann einen immer überkommen, jeden Tag, in jeder Sekunde, wenn mal wieder was runterfällt oder man selbst fällt, wenn man mal wieder zu vorlaut war oder ein Bier zu viel getrunken hat und morgens mit dem Gedanken "Oh mein Gott, ich werde den anderen nie wieder unter die Augen treten können!" aufwacht.

Wir waren uns einig: Wir brauchen einen Experten, der uns die Scham erklärt. Wir fanden: Jens Tiedemann, Psychologe und Psychotherapeut, der sich seit langer Zeit wissenschaftlich mit Schamgefühlen beschäftigt. Er hat schon diverse Artikel und mehrere Bücher zum Thema verfasst. Vielleicht kann er uns mit der Scham versöhnen. Und mit den Glastüren dieser Welt, die so gerne genau dort sind, wo man selbst gerade langgehen will.

jetzt.de: Die Idee für dieses Gespräch kam mir, als mir auffiel, dass ich mich immer wieder aufs Neue schäme, wenn ich im Nachhinein an peinliche Situationen denke. Wieso verjährt Scham nicht, im Gegensatz zu zum Beispiel Schuld oder Trauer? 

Jens Tiedemann: Weil Scham sich in unserem Gedächtnis in Form von bildhaften Szenen abbildet. Und weil es beim Schämen immer einen verinnerlichten Anderen gibt, von dem man fürchtet, verachtet zu werden.

Ein  "verinnerlichter Anderer" muss also niemand Bestimmtes sein?

Nein, das ist das Paradoxe: Oft schämt man sich vor einer anonymen Masse. Zum Beispiel, wenn man im Winter zur Tür rausgeht, es ist glatt und man fällt hin – die meisten Menschen drehen sich sofort um, um zu schauen, ob sie jemand gesehen hat. Scham ist sehr stark an den Blick gebunden. Entscheidend ist auch, ob eine Person zuschaut oder fünf Millionen. 

Bringt uns Scham eigentlich auch etwas, abgesehen von quälenden Erinnerungen? 

Scham ist es ein zutiefst sozialer Affekt, vielleicht sogar der sozialste, den wir haben, ein Klebstoff, der eine Gesellschaft zusammenhält. 

So wie Moral?

Moral hat eher damit zu tun, wie man handelt, da kommen wir in den Bereich der Schuldgefühle. Scham und Schuld werden sehr oft verwechselt – bei Schuldgefühlen geht es darum, was ich jemandem angetan habe. Bei Schamgefühlen geht es eher um das Selbst, darum, was mir passiert ist und was jemand anders gesehen hat. 

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Wenn Scham ein sozialer Affekt ist, dann ist sie erlernt und nicht angeboren, oder? 

In der Psychologie herrscht darüber Uneinigkeit. Scham ist ein relativ komplexer Affekt, der zusammen mit Schuld erst spät entsteht, mit etwa drei Jahren. Die Anlage ist sicherlich angeboren, genauso wie Angst oder Wut. Aber wie genau die Inhalte der Scham sind, das lernt man. Scham richtet sich nach gesellschaftlichen Konventionen, was erlaubt ist und was nicht. Und es gibt natürlich auch eine familiäre Prägung. 

 

Gibt es zwischen verschiedenen Gesellschaften Unterschiede, wofür man sich schämt? 

Von anthropologischer Seite gibt es die mittlerweile etwas veraltete Unterteilung in Schuldkulturen und Schamkulturen. Nach dieser Definition sind Schuldkulturen vor allem die westlichen, christlich-jüdisch geprägten Kulturen, Schamkulturen zum Beispiel die japanische und die islamische. In denen geht es sehr stark um Ehre und Gesichtsverlust. Es ist also schon kulturbedingt, wofür man sich zu schämen hat. Einige Sachen sind aber kulturübergreifend, zum Beispiel in einer öffentlichen Toilette die Tür zu öffnen und jemanden vorzufinden. Nacktheit ist generell etwas sehr Universelles, für das man sich schämt. 

 

Wie im Paradies... 

Ja, in der christlichen Kultur geht das zurück bis zum Sündenfall – das ist der Anfang des Schamgefühls und interessanterweise auch der Anfang des Menschseins, da gibt es einen direkten Zusammenhang. 

 

Was passiert physiologisch, wenn wir uns schämen? 

Als erstes das, was so eigenartig ist: Die Schamröte tritt uns ins Gesicht. Da hat sich schon der alte Darwin den Kopf drüber zerbrochen. Denn Rot ist ja eine Signalfarbe, die signalisiert "Schau her!" Alles andere, was körperlich beim Schämen passiert, ist eher ein Wegwenden – man verbirgt sein Gesicht, man wendet sich ab. Der Ursprung des Wortes Scham, das indogermanische "kêm", bedeutet auch "sich verhüllen". 

 

Kann man Scham denn verarbeiten? Muss dafür zum Beispiel ein anderer kommen und sagen "Das war doch gar nicht schlimm!" 

Nein, das hilft eher bei Schuld, da ist das Gegenmittel die Vergebung des anderen. Bei Scham geht es aber um einen selbst. Ein Gegenmittel für Scham ist, mit einer gewissen Milde auf sich selbst zurück zu schauen. Das gelingt nicht jedem. 

 

Ich glaube, am häufigsten habe ich mich während meiner Pubertät geschämt. Wieso? 

Psychologisch wird Scham als die Diskrepanz zwischen einem Ist-Zustand und einem Soll-Zustand definiert, wie ich bin und wie ich gerne sein möchte. Pubertät ist eine Schamzeit par excellence, weil man sich als Identität herausbildet und es sehr stark darum geht, wie man sein möchte, aber einem auch oft bewusst wird, dass man noch nicht dort angekommen ist. 

 

Es gibt ja auch noch die Fremdscham. Die ist relativ neu, oder? 

Zumindest gab es den Begriff "Fremdscham" vor fünf Jahren noch nicht. Er weist aber auch eine wichtige Charakteristik der Scham hin: Sie ist extrem ansteckend. Neurophysiologisch ist das belegt, es gibt die sogenannten Spiegelneuronen und mein Gehirn versetzt sich automatisch in den Bewusstseinszustand und das Gefühl eines anderes. Fremdschämen zeigt, wie intensiv ich mich mit anderen identifiziere und mit ihnen verbunden bin. Ich weiß dann nicht mehr genau: Wo höre ich auf und wo fängt der andere an? Wessen Scham ist es eigentlich? Das macht auch viel vom Reiz der Castingshows aus. Sich mit jemand Peinlichem zu identifizieren und doch zu wissen: Ich bin es nicht wirklich. 

 

Ist das wie Horrorfilme schauen, weil man sich gerne gruselt oder ekelt?

Ja, weil man dann spürt, dass man das meistern kann, dass am Ende des Films das Licht angeht und nichts passiert ist. So ist das bei Scham auch.

 

In der vergangenen Woche gab es mal wieder eine große Diskussion um Nacktfotos, die öffentlich gemacht wurden. Sorgen die neuen Medien, das Internet und die sozialen Netzwerke dafür, dass wir uns heute mehr schämen oder mehr beschämt werden als früher? 

Es gibt schon eine größere Schamangst, also Angst davor, dass man im Internet etwas über sich finden könnte, das einen bloßstellt. Andersrum wird sich weniger geschämt. Der Grundsatz "Ich werde gesehen, also bin ich" ist heute oft stärker. Viele glauben, nur in der Reflexion einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit zu existieren. Dabei kommt es zu einem Überspringen der Scham. Bei Soziologen und Psychologen herrscht ein gewisser Kulturpessimismus vor, dass darum das Schamgefühl verloren geht. Dabei ist die Scham ja extrem wichtig: Sie ist die Wächterin unserer Privatheit. Sie sagt uns, was wir besser nicht preisgeben sollen.

Mehr gutes Leben:

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