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Bewusst auf die Tränendrüse
Bei Sekunde 15 passiert es. Im Edeka-Spot „Heimkommen“ sagt eine Stimme auf dem Anrufbeantworter: „Wir werden es Weihnachten dieses Jahr wieder nicht schaffen.“ Opa ist dieses Jahr wieder allein an den Feiertagen. Traurig guckt er aus dem Fenster, zu seinem Nachbarn, der seine Kinder und Enkel in den Arm nimmt. Sein Blick senkt sich, die Musik wird lauter. Und an meiner Backe läuft die erste Träne herunter.
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Der neue Weihnachts-Spot von Edeka um den einsamen Opa, der seinen Tod vortäuscht, wird derzeit viel diskutiert. Die Reaktionen sind nicht nur positiv. „Schöööön!“ ist dabei, aber auch: „Makaber.“ Traurig. Berührend! Mutig. Geschmacklos! Kitschig. Pietätlos! Gesellschaftskritisch. Grandios! An die 30 Millionen Mal wurde der Clip innerhalb weniger Tage auf Youtube angesehen, 18 Millionen Mal auf Facebook. Es ist ja schön, dass ein Video so etwas auslösen kann. Doch während ich noch mit dem Taschentuch eine Freudenträne aus dem Augenwinkel wische, weil Opa am Ende doch nicht tot ist, wird schon das Supermarkt-Logo eingeblendet. Und ich fühle mich missbraucht von der miesen Berechnung einer Werbeagentur, die mit Themen wie Einsamkeit und Tod Werbung für eine milliardenschwere Einzelhandelskette macht.
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In Großbritannien haben tränendrüsige Werbeclips zur Vorweihnachtszeit Tradition. Eine Supermarktkette hat in diesem Jahr eine Kurzgeschichte um die Katze Mog als Advents-Clip verfilmt: Mog löst eine Kette von Ereignissen aus, in der der Weihnachtsbraten verkohlt und der Christbaum und alle Weihnachtsgeschenke zerstört werden. Am Schluss helfen die Nachbarn beim Aufräumen und retten mit einem neuen Baum, Essen und Geschenken das Fest. 18 Millionen Klicks. „The Man on The Moon“, der Weihnachts-Clip einer anderen britischen Kaufhauskette, wurde sogar mehr als 19 Millionen Mal auf Youtube angesehen. Darin ist ein Opa nicht nur beim Weihnachtsessen allein, sondern gleich auf einem ganzen Himmelskörper.
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In den Clips geht es nicht mehr darum, Tiefkühlenten und eingeschweißte Kartoffelknödel aus dem Advents-Prospekt zu bewerben, sondern, darum, Gefühle zu wecken, auf Facebook geteilt zu werden, Gesprächsstoff zu werden. Sie sind mehr Kurzfilme als Werbespots, aufwändig inszeniert und animiert. Das ist beeindruckend. Aber auch etwas eklig. Weil Werbung, das sind am Ende doch die gleichen Leute, die mit großen Brüsten Autos verkaufen. Deswegen interessiert uns: Wie schaffen die das? Ein Anruf bei Dr. Meike Uhrig, 35, Medienwirkungs- und Emotionsforscherin und akademische Mitarbeiterin an der Universität Tübingen.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Meike Uhrig: Jetzt haben Sie mich mit Ihren Links ganz schön zum Weinen gebracht!
jetzt.de: Das tut mir leid!
Ist ja auch mein Job.
Man kann sich noch so sehr einreden, dass es ja nur Werbung ist, trotzdem berühren einen die Spots. Wie schaffen die das?
Zum einen durch die Geschichten selbst. Dramaturgisch sind diese weihnachtlichen Werbespots zwar alle ziemlich ähnlich aufgebaut und auch nicht wirklich innovativ. Aber vor allem die übergeordneten Themen funktionieren: Krankheit, Einsamkeit, Verlust. Tod geht fast immer, das ist ein Thema, das alle betrifft und berührt, und mit dem man sich nicht so gerne auseinandersetzt. Noch dazu wirft einen Weihnachten emotional in die Kindheit zurück und macht solche zentralen menschlichen Themen präsenter. Außerdem werden die Spots filmtechnisch entsprechend inszeniert.
Wie genau funktionieren diese Clips?
Bleiben wir beim Edeka-Spot. Am Anfang sehen wir die ganzen Klassiker der filmischen Mittel: dumpfes Licht, langsame Schnitte. Der alte Mann sitzt am Kopfende, die Kamera befindet sich am gegenüberliegenden Ende des langen, leeren Tisches. Wir sehen den Opa aus leicht erhöhter Perspektive in einiger Distanz, was ihn noch kleiner und mitleiderregender wirken lässt. Besser kann man Einsamkeit nicht inszenieren. Auch die Musik ist hier extrem wichtig. Die ändert sich dann in fast allen Spots beim jeweiligen Wendepunkt ganz radikal, ebenso wie der Schnittrhythmus.
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Alle diese Clips haben so einen Wendepunkt.
Die Nachbarn retten in letzter Minute das Weihnachtsfest. Das kleine Mädchen schafft es, dem alten Mann auf dem Mond mit Luftballons eine Botschaft zu schicken, damit er sich nicht mehr so einsam fühlt. Der erwachsene Sohn zieht den selbstgestrickten Affen-Pulli von seiner Mutter an und hält damit seine Präsentation im Büro zu Ende. Diese Botschaften würden außerhalb der Vorweihnachtszeit albern wirken. An Weihnachten geht das, da trägt man auch voller Stolz die riesigen bunten Ohrringe, die die Tochter selbst gebastelt hat.
"Trauer auszulösen braucht Zeit"
Muss man auf Kitsch stehen, um davon berührt zu werden?
Die Spots funktionieren auch bei Menschen, die sich kein zweistündiges Melodram reinziehen würden. Es gibt Leute, die setzen sich gerne bewusst mit Themen wie Tod oder Verlust auseinander. Viele sehen gerne traurige Filme und fühlen sich sogar richtig gut, wenn sie eine halbe Stunde lang im Kino geweint haben. Aber auch, oder gerade wenn man solche traurigen Themen gerne vermeidet, haben diese kurzen Spots oft eine starke emotionale Wirkung.
Es sind kurze Videos, aber für Werbung dauern sie eigentlich ziemlich lange.
Trauer auszulösen braucht Zeit. In einer Studie haben wir herausgefunden, dass das Auslösen von Humor oder Angst auch bei sehr kurzen Sequenzen funktioniert, ebenso Schreck oder Ekel. Trauer hingegen braucht meist eine Geschichte, bei der man emphatisch mitempfinden kann.
Werbe-Spots werden immer aufwändiger, fast wie Kurzfilme.
Das passt zu dem Trend zu hochwertigen Produktionen, den wir gerade erleben. Da wird extra Musik komponiert, wie der Song „Dad“ für den Edeka-Spot. Man sieht in dem Clip zwar Karotten, Wein und den Weihnachtsbraten, aber das sind keine schnellen Produktkampagnen mehr, sondern mittelfristig angelegte Image-Kampagnen, die ein liebevolles, familiäres Bild mit dem Unternehmen verknüpfen wollen. Unbewusst speichert man die Firma positiv ab und geht irgendwann vielleicht dort einkaufen.
Bisschen eklig ist das schon. Da wird mit einem toten Vater eine Firma beworben.
Aber es funktioniert. Zumindest oft. Und es ist ja auch nichts Neues, dass Emotionen für einen bestimmten Zweck eingesetzt werden. Das war schon im Zweiten Weltkrieg so.
Mit den Propaganda-Filmen.
Da wurde emotionale Nähe auf der einen und emotionale Distanz auf der anderen Seite geschaffen und damit eine Botschaft vermittelt. Das geht über die filmischen Mittel oder auch über assoziative Verknüpfungen. In einigen Filmen wurden Juden bildlich mit Ratten in Verbindung gebracht, dadurch wurden Assoziationen zu Schmutz, Dreck und Krankheit geschaffen. Die Opfer wurden völlig entmenschlicht, der Zuschauer fühlte sich den Tätern näher.
Ist den Zuschauern egal, von wem so ein Video oder Spot gemacht wird? Für die emotionale Wirkung ist das erstmal zweitrangig. Trotzdem erwartet man bei einem Spot, der von einem Supermarkt in Auftrag gegeben wurde etwas Anderes als von einer Flüchtlingshilfeorganisation oder der Demenzhilfe. Gerade was die Auflösung angeht: Beim Supermarkt ist die Hoffnung auf ein Happy End ziemlich groß. Dadurch, dass der Schluss es so lange hinausgezögert wird, ist die Erleichterung am Ende umso größer. Wären die Kinder und Enkel einfach so zu Opa gefahren und hätten glücklich zusammen gegessen, wäre das auch schön gewesen. Aber so hat der Zuschauer gedanklich durchgespielt, was alles auf dem Spiel steht, und freut sich umso mehr.
Spricht uns der Edeka-Clip auch an, weil wir ein schlechtes Gewissen haben?
Das ist vielleicht zu viel gesagt, aber fast jeder kennt das Gefühl, dass viele Dinge, die einem eigentlich wichtig sind, im Alltagsstress zu kurz kommen. Gerade am Ende des Jahres hat man dafür ein geschärftes Bewusstsein. Deshalb ist auch die Freude am Ende des Spots so groß, dass es in der Geschichte eine Chance gibt, das Versäumte wieder aufzuholen.
Funktionieren diese emotionalen Videos also nur vor Weihnachten?
Schon besonders gut. Weihnachten ist ein Ausnahmezustand, und das jedes Jahr aufs Neue. Da ist zwar einerseits der Endjahresstress, aber gleichzeitig auch diese Idee vom besinnlichen Weihnachtsfest. In dieser Zeit wird man in die eigene Kindheit zurückgeführt, hat wieder Spaß an Weihnachtsmanngeschichten, isst die gleichen Süßigkeiten, die man schon seit Jahrzehnten isst. Dann darf man auch solche Spots bringen, emotional auf die Kacke hauen, klischeehaftere Storys auffahren, dicker bei der Musik auftragen. Die Leute haben eine höhere Akzeptanzschwelle.