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Bestseller-Autorin Leslie Jamison über Sucht, Mitgefühl und Hillary Clinton
Leslie Jamison sitzt in einer Ecke des Restaurants auf der Sixth Avenue, das sie für das Interview ausgesucht hat. Groß, hager und mit Sorgenfalten auf der Stirn. Sie hat das Handy am Ohr und scheint jemanden erreichen zu wollen, den sie nicht erreicht. Aber dann legt sie auf, die Sorgenfalten verschwinden und sie ist sofort freundlich und zugewandt. Sie spricht sehr schnell sehr viel, mit dem Ellenbogen am Körper und kreisenden Unterarmen.
Leslie Jamison, 33, ist eine der lesenswertesten jungen Autorinnen, die es derzeit gibt. 2010 erschien ihr Debüt-Roman „The Gin Closet“, aber berühmt gemacht hat sie ihr im April 2014 erschienener Essay-Band „The Empathy Exams“ (deutsch: „Die Empathie-Tests: Über Einfühlung und das Leiden anderer“ bei Hanser), der auf der Bestseller-Liste der New York Times landete und von Kritikern hoch gelobt wurde. Die Texte kreisen alle um das Thema Schmerz und Mitgefühl, dem Leslie sich aus verschiedensten Perspektiven nähert. Zum Beispiel als Test-Patientin für angehende Psychotherapeuten, denen sie ein Leiden vorspielen muss. Als Besucherin eines Kongresses, auf dem sich Menschen treffen, die an einer eingebildeten Krankheit leiden. Als Brieffreundin eines Häftlings. Oder als Kulturphilosophin, die die Geschichte des weiblichen Schmerz’ in Literatur und Kunst nachzeichnet und analysiert.
Bei all dem geht sie sehr oft von sich selbst aus und kehrt auch immer wieder zu sich selbst zurück. Zu ihrer Abtreibung, ihrer Herz-OP, ihrer Essstörung, ihrem selbstverletzenden Verhalten, oder einem Überfall, bei dem ihr die Nase gebrochen wurde. Die Kunst dabei ist, dass sie so die Leser ihrer eigenen, Ich-bezogenen Generation einfängt – und dann nicht mehr loslässt, wenn sie von diesem selbstbezogenen Punkt aus auf eine andere Ebene gelangt. Auf der sie dann sehr grundlegende Fragen beantwortet: Wo hört man selbst auf und wo fängt der Andere an? Wie funktioniert Mitgefühl? Wie weit reicht es und wie weit muss es reichen? Wie viel davon brauchen wir? Und welches genau?
Die Veröffentlichung des nächsten Buches ist für Herbst 2017 geplant. Gerade naht die Deadline. Aber für ein Gespräch ist trotzdem noch Zeit.
Jetzt: Arbeitest du hier in der Gegend?
Leslie Jamison: Ja, ich habe hier um die Ecke einen Platz in einem Co-Working-Space. Das ist super, weil unsere Wohnung in Brooklyn viel zu klein ist – meine siebenjährige Stieftochter ist die einzige von uns Dreien, die einen eigenen Schreibtisch hat (lacht).
Ist dein neues Buch wieder ein Essay-Band oder wird es dein zweiter Roman?
Keines von beidem. Es ist ein Sachbuch, also noch mal eine ganz neue Form und ein ziemliches Abenteuer für mich. Ich musste viel nachdenken, wie ich es strukturiere und wie auf dieser Länge funktionieren kann, was ich so gerne mache: meine eigenen Erfahrungen und die anderer Menschen zusammen zu bringen.
Worum geht es denn?
Um Sucht und Genesung.
Du warst süchtig?
Ich hatte bis vor sechs Jahren ein Alkoholproblem.
Du schreibst so viel über dich selbst – aber das Trinken spielte bisher keine Rolle.
Ich war einfach noch nicht bereit, darüber zu schreiben. Ich brauchte ein bisschen Abstand. Darum tauchte das Thema auch in den „Empathie-Tests“ nicht auf.
Und in deinem neuen Buch erzählst du nun deine Sucht-Geschichte?
Es geht eher um den berühmten Mythos des betrunkenen, total dysfunktionalen, düsteren Genies, und wie der dem Versuch entgegensteht, gesund zu werden. Ich betrachte das Thema dafür aus drei verschiedenen Perspektiven: Erstens meine eigene Suchtgeschichte und meine Genesung. Zweitens die Geschichten von verschiedenen Autoren, die versucht haben, trocken zu werden - wie das ihren Kreativ-Prozess beeinflusst hat und wie sie selbst die Geschichte ihrer Sucht erzählt haben. Dafür habe ich in Archiven recherchiert und Interviews geführt. Und drittens die kulturellen Erzählungen der Sucht. Denn in Amerika gibt es davon zwei: Die eine sagt, dass Sucht eine Krankheit ist, die andere, dass es ein Verbrechen ist – und ich habe mir angeschaut, wie beide im Laufe der Zeit miteinander konkurriert haben.
Also geht es mehr um Erzählungen über Sucht als um die Sucht selbst.
Und darum, wie anders Erzählen sein muss, wenn du clean bleiben willst. Seit ich denken kann, wollte ich Autorin sein, und ich habe gelernt, dass es dafür wichtig ist, dass man schöne und originelle Geschichten erschafft. Der Genesungsprozess nach einer Sucht basiert auch darauf, eine Geschichte zu teilen – aber der Werte-Maßstab ist ein komplett anderer! Du gehst zu Treffen, bei denen Menschen über ihre Erfahrungen sprechen, aber dabei geht es nie darum, eine originelle Geschichte zu erzählen, sondern im Gegenteil eine komplett unoriginelle. Eine, mit der die anderen in der Runde sich identifizieren können. Das hat mich sehr bewegt: Menschen zu treffen, für die es essentiell war, zu erzählen, aber die ihre Geschichten nicht schön machen wollten, sondern vor allem friedlich.
Eigentlich hast du ja doch schon mal über Sucht geschrieben: Tilly, die Protagonistin deines Romans „The Gin Closet“, ist Alkoholikerin.
Ja, um die Entstehung des Romans geht es in dem neuen Buch auch ein wenig: Was es bedeutet hat, darüber zu schreiben, eine Säuferin zu sein, und sich gleichzeitig selbst zu besaufen. Es heißt ja immer wieder, dass du ein Sucht-Problem lösen kannst, wenn du dich selbst nur gut genug verstehst. Aber Süchtige werden von diesem Versprechen oft enttäuscht: Du kannst dich selbst wirklich gut verstehen, und es trotzdem nicht schaffen…
Machst du dich nicht wahnsinnig verletzlich dadurch, dass du so viel über dich selbst schreibst?
Klar, mein Schreiben wirkt auf den Leser wie: „Ich ziehe den Vorhang auf und zeige mich!“ Aber so funktioniert das ja nicht. Ich erfinde zwar nichts, aber ich wähle sehr bewusst aus, was ich sage und was nicht. Und ich arbeite sehr lange an einem Text. Wenn er dann raus in die Welt geht, ist er schon noch ein Teil von mir, aber eben auch ein künstlerisches Objekt, in das ich mich selbst als Charakter hineingeschrieben habe. Für alles, was ich darin sage, gibt es 2000 andere Sachen, die ich hätte sagen können.
Trotzdem wird dieses sehr persönliche Schreiben von manchen als „zu selbstbezogen“ kritisiert.
Mh, ich denke, diese Kritiker sind dann einfach nicht die richtigen Leser für meine Texte (lacht). Ich schreibe ja nicht meine Memoiren, sondern es steckt viel Recherche, viel Journalismus darin. Auch wenn die erste Person, das „Ich“, sich im Journalismus manchmal wie ein Eindringling anfühlt. Sogar für einen selbst. Ich lehre Schreiben an der Columbia University hier in New York und kriege immer wieder mit, dass viele meiner Studenten die gleichen Zweifel haben wie ich.
"Ich glaube, dass in jedem Leben interessantes Material steckt. Du musst nur die richtigen Fragen stellen"
Welche?
Den Gedanken: „Warum sollten irgendjemanden meine Erfahrungen interessieren? Mein Leben ist doch gar nicht besonders genug, um in einem Essay aufzutauchen.“ Ich sage ihnen – und auch mir selbst – immer wieder: Ich glaube, dass in jedem Leben interessantes Material steckt. Du musst nur die richtigen Fragen stellen. Und zu deinem eigenen Leben und deinen eigenen Erfahrungen hast du nunmal einfach einen sehr viel größeren Zugang als zu der Wahrnehmung eines anderen Menschen. Von daher ist das, was ich mache, eigentlich bloß pragmatisch.
Warst du denn schon immer so offen?
Ich habe zumindest schon als Kind miterlebt, was es auslösen kann, wenn du deine Geschichte teilst. Welche Kraft das haben kann. Meine Tante, eine Frau, die ich immer sehr bewundert habe, ist Psychiaterin. Sie hat damals ein Buch über ihre manische Depression geschrieben – und unglaublich viele Reaktionen darauf bekommen! Wahnsinnig viele Menschen wollten mit ihr sprechen, wollten ihr Leben mit ihr teilen, mit ihr arbeiten.
Von deinen Essays ist mit besonders „Devil’s Bait“ im Gedächtnis geblieben. Für den warst du auf einer Konferenz, auf der sich Menschen mit „Morgellons“ getroffen haben: Sie glauben, eine Krankheit zu haben, bei der sich Fremdkörper unter ihrer Haut einnisten und ausbreiten. Du hattest Mitleid, weil sie ja wirklich leiden – aber dein Mitleid bezog sich auf ein anderes Leid als das, an das sie selbst glauben. Hast du eine Lösung für dieses Empathie-Dilemma gefunden?
Ich habe vor allem gemerkt, wo die Grenzen meines Mitgefühls sind. Bis zu welchem Maß ich nachvollziehen kann, was jemand durchmacht, und wo das aufhört. Ich bin eigentlich gerne mit anderen einer Meinung, und ich wollte den Menschen dort unbedingt zustimmen. Ich wollte sagen: „Ich glaube, dass du an genau der Krankheit leidest, an der du glaubst zu leiden!“ Aber das war nicht möglich. Dadurch habe ich gelernt, dass ich, um Mitgefühl mit jemandem zu haben, um ihm Verständnis entgegen zu bringen und mich um ihn zu sorgen, nicht unbedingt mit ihm einer Meinung sein muss. Das ist übrigens auch auf der gesellschaftlichen Ebene und vor allem aktuell besonders wichtig, weil es die Grundlage für eine funktionierende Demokratie ist.
Wie meinst du das?
Naja, ich bin ein größerer Hillary-Clinton-Fan als die meisten – aber ich finde auch, dass man den Trump-Wählern zuhören muss, und versuchen sollte, ihre Wut zu verstehen.
Gerade Hillary Clinton wird ja oft vorgeworfen, sie sei „zu kalt“, zu wenig empathisch und menschennah. Siehst du als Empathie-Expertin das auch so?
Sie ist keine besonders charismatische Politikerin, zu der man sich hingezogen fühlt. Aber wenn du dir Hillarys Laufbahn ansiehst, dann hat sie sehr viele Jahre ihres Lebens für die Politik geopfert, und ich glaube, dass ihr Programm von Empathie und Mitgefühl inspiriert ist. Zum Beispiel, wenn es um soziale Sicherheit oder Asylpolitik geht.
Und ihr Gegner? Ist der empathisch?
Puh, Ich weiß gar nicht, wie ich Trump da einordnen soll. Ich denke, er ist weniger mitfühlend und eher einfach nur wütend. Aber auf Leute, die auch wütend sind, wirkt das wahrscheinlich wie Empathie.