Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Horror-Nebenjob: Als Filmvorführer unter wütenden Senior*innen

Illustration: Daniela Rudolf-Lübke

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Horrorstufe: 6 von 10

Chef*in: Martin, der Kino-Geek (Name geändert)

Bezahlung: 12 Euro die Stunde

Erlernte Skills: Hass absorbieren

Man könnte meinen, dass der Beruf des/der Kinovorführer*in hochgeachtet ist. Denn eigentlich ist er/sie doch Vermittler*in zwischen zwei Welten: der furzbanalen Alltagswelt der Konsument*innen auf der einen, und einer fantastischen, übernatürlichen, abenteuerlichen Welt der Filmrealität auf der anderen Seite. Aber anders als etwa bei Priestern oder Live-Musiker*innen, die ja ein ähnliches Prinzip nutzen, sind Kinovorführer*innen beinahe unsichtbar. Und wenn sie mal sichtbar werden, dann immer nur in einem negativen Zusammenhang.

Das Kino, in dem ich minijobbte, ist mittlerweile geschlossen, dort ist jetzt ein Drogeriemarkt. Es war ein richtig altes Kino aus den 1930er Jahren, mit roten Samtsesseln, roten Teppichen und goldenen Verzierungen. Und einem Vorführraum, in den man nur über eine altertümliche Wendeltreppe und eine Art Geheimgang kam. Die Technik war zwar schon längst digitalisiert worden, aber sonst sah in diesem modrigen Kämmerlein hoch über dem Saal alles wie vor 90 Jahren aus. 

Auf der Leinwand erschien ein Schriftzug: „Connection cannot be established“

Samstagnachmittags gab es immer eine Sondervorführung: Eine Live-Übertragung eines Balletts aus dem Bolschoi-Theater in Moskau, Sektempfang inklusive. Zu diesen Vorführungen kamen ausschließlich Senior*innen und freuten sich vermutlich schon die ganze Woche darauf. Martin, der Ober-Filmvorführer, hatte mir genau erklärt, welche Knöpfe ich drücken musste, um mit dem Projektor über ein Satellitenprogramm Zugang zum Live-Stream in Moskau zu bekommen. Ich schrieb mir alles zweimal auf, weil ich an besagtem Samstag alleine sein würde.

Der Samstag kam, es war wie immer ausverkauft. Wir hatten Stehtische im Foyer aufgebaut, Sekt wurde ausgeschenkt und die Stimmung war ziemlich aufgedreht. Dann saßen alle, das Licht ging aus. Ich drückte auf Start und im Dunkeln schwoll der Klang eines Orchesters an, das die Instrumente stimmt. Dann waren die Instrumente gestimmt. Es blieb dunkel. Dann fing das Ballett an. Es blieb dunkel. Nach circa einer Minute fiel dann auch der Ton aus und auf der Leinwand erschien ein Schriftzug: „Connection cannot be established.“

Um die 150 Senior*innen saßen im Dunkeln und fluchten vor sich hin

Murren kam auf. Ich rannte hoch in die Projektor-Kammer, checkte alles, startete alles neu. Waldhörner erklangen im Dunkeln, brachen dann wieder ab. „Connection cannot be established.“ Unten aus dem Kinosaal kamen jetzt vereinzelt Rufe wie „Unmöglich!“ und „Des gab’s noch nie!“. In Kinosaal 2 war ein anderer Film zu Ende, die Zuschauer verließen den Saal und ich hätte alles bereit machen müssen für die nächste Vorstellung. Aber ich wählte panisch Martins Nummer. „Hallöchen, hier ist der Martin! Ich bin gerade leider nicht zu erreichen, aber wenn du eine Nachricht hinterlassen willst, dann …“ Fuck! 

Ich wählte andere Nummern. Niemand zu erreichen. Buh-Rufe von unten. Außer mir war nur eine andere Minijobberin da, die sich aber nur um die Kasse kümmerte und dabei war zu gehen. Sie meinte, ich müsse als erstes mit den Leuten reden. Sie hatte recht. Um die 150 Senior*innen saßen da im Dunkeln, fluchten vor sich hin und würden das Kino in Flammen stecken und dann plündernd und mordend durch die Innenstadt ziehen, wenn ich sie nicht irgendwie beschwichtigte. Ich machte ein kleines Licht im Saal an, ging vor an die Leinwand und entschied mich zu lügen. „Es tut uns wahnsinnig leid, aber die Kollegen in Moskau scheinen ein technisches Problem mit der Übertragung zu haben!“ Es gab keine Kollegen in Moskau, es stimmte einfach irgendwas mit dem Projektor nicht. Aber diese Erklärung beruhigte sie erstmal einigermaßen. „Die Russen halt!“, hörte ich jemanden sagen. Ich schämte mich. „Warten Sie bitte noch ein bisschen, es gibt im Foyer noch Sekt!“ 

Als der ganze Sekt ausgetrunken war, erreichte ich Martin. Er radelte sofort zum Kino, schaute sich alles an – und wusste auch nicht, was das Problem war. Dann erklangen wieder Streichinstrumente im Saal, alle stürmten wieder rein und setzten sich. Dann wieder: „Connection cannot be established.“ Leute sprachen mich jetzt direkt an: „Sind Sie unfähig oder was?!“ Ich rannte wieder hoch, Martin schüttelte nur den Kopf: „Du musst ihnen sagen, dass die Vorstellung vorbei ist und ihnen ihr Geld zurückgeben. Und Gutscheine.“ „Warum ich?!“ „Du hast jetzt schon eine Verbindung zu ihnen aufgebaut.“

„Ich glaube, Sie sind im falschen Beruf“

Im Foyer bildete sich eine lange Schlange angetrunkener Kulturliebhaber*innen, an deren Ende ich stand, Gutscheine ausgab und mich entschuldigte. Niemand hatte Verständnis für die technische und menschliche Fehlerhaftigkeit der Welt und niemand konnte sich ein enttäuschtes Kopfschütteln oder einen letzten Kommentar wie „Wir kommen sicher nicht nochmal“ oder „Ich glaube, Sie sind im falschen Beruf“ verkneifen. Vergessen waren all die glücklichen Stunden, die sie in ihrem Leben schon ohne Zwischenfälle in Kinos verbracht hatten. In denen ich und meinesgleichen ihnen ein sorgloseres Leben ermöglicht haben. Der Beruf des Kinovorführers ist ein undankbarer, aber verdammt – ich habe ihn gern gemacht. Es gab gratis Popcorn.

  • teilen
  • schließen