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Horror-Nebenjob als Aufpasser im Fußballstadion
Es gibt viele Theorien zur richtigen Erziehung von Kindern. Gerade für die Zeit, in der sie glauben, das Zentrum der Welt zu sein. Wenn der Gedanke, dass andere Menschen ebenso reale Wünsche und Gefühle haben wie sie, noch völlig absurd erscheint. Ich möchte hier eine neue pädagogische Methode vorschlagen: Stellt euer Kind zwei Stunden lang vor eine Tribüne voller sturzbesoffener schweizer Fussball-Ultras, die es pausenlos anschreien: Hu-Hu-Hu-Hueresooooohn! Hueresooooohn! Huereso-ho-hooon!
Es wird danach mit mehr Demut durch die Welt gehen. Ich weiß das, weil ich selbst in den Genuss dieser Situation gekommen bin.
Während meines Studiums nahm ich einen Gelegenheitsjob bei einer Firma an, die im weitesten Sinne Eventservices anbot. Dazu gehört anscheinend auch die Sicherheit bei Fußballspielen. Wir wurden für den Job nach Zürich gefahren, zum Letzigrund-Stadion, und es gab drei Euro mehr als bei Jobs auf deutschem Boden, was ich zu dem Zeitpunkt noch sehr nobel von unserem Chef fand.
„Wenn jemand über die Absperrung klettert – einfach zu Boden tackeln!“
In einem großen Kellerraum des Stadions trafen wir dann mit circa 50 anderen, kurzfristig angeheuerten Schweizer Gelegenheitsjobber*innen zusammen. Sie bekamen für den exakt gleichen Job alle acht Euro mehr als wir Deutschen. Unsere Bezahlung war zwar immer noch in Ordnung, aber diese Tatsache war während der kommenden Stunden ein zusätzlicher kleiner Stachel in meinem Fleisch.
Wir bekamen Ordner-Uniformen und Warnwesten. Es war Ende November und kalt. Meine Füße froren schon kurz nach der Ankunft in viel zu leichten Sneakern. Die erfahreneren Aufpasser*innen hatten Thermoskannen, dicke Wollsocken und Handschuhe dabei. Und vermutlich auch emotionale Kettenhemden, wie mir später klar wurde. Der Schweizer Teamleiter hielt eine Ansprache mit Anweisungen für den Ernstfall: „Wenn öpper über d’Absperrig chlätteret, denn haueder de tumme Siech eifach um!“ Heißt: Wenn jemand über die Absperrung klettern sollte – einfach diesen Deppen zu Boden tackeln. Oha.
Wir standen rund um das Spielfeld, auf der Aschenbahn, mit dem Rücken zum Fußballspiel, Blick frontal auf die Zuschauer, in meinem Fall waren das die Gäste aus Bern. Jede*r von uns bekam einen vier Meter breiten Korridor zugewiesen, für den er*sie zuständig war. Falls in unserem Korridor jemand Pyros werfen sollte, sollten wir sie mit einer langen Zange aufheben und in einen Löscheimer werfen. Und wenn jemand in unserem Korridor aufs Spielfeld rennen sollte, wie gesagt, de Siech umhaue. Im Nachhinein wäre ich sehr dankbar gewesen, wenn das eine oder das andere passiert wäre. Denn letztlich bestand der Job einfach nur aus stehen. Und gedemütigt werden.
Ein Fan kletterte auf den Zaun und machte einfach nur Bumsbewegungen.
Am Anfang waren die Fans noch einigermaßen auf das Spiel in unserem Rücken konzentriert und richteten ihre Schlachtrufe an ihre eignen oder an die Spieler der gegnerischen Mannschaft. Wir durften uns nicht umdrehen. Die einzige Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen, war, in die verschiedenen Gesichter zu starren und anhand ihrer Reaktionen zu erraten, was hinter uns vor sich ging. Dass ich das Spiel nicht sehen konnte, störte mich nicht sehr, weil ich, mit Verlaub, einen Furz auf Fußball gebe. Es war interessanter, aus nächster Nähe (mit einem schützenden Zaun dazwischen) zu beobachten, wie brave Bürger der angeblich neutralsten Nation der Welt in einem Moment zu einem hasserfüllten Mob und im nächsten zu glücklich kreischenden Kleinkindern wurden.
Dann wurden sie immer betrunkener und das Spiel schien sie allmählich zu langweilen. Die ersten fingen an, mir und meinen Kolleg*innen Sachen zuzurufen wie: Ist euch kalt? Hättet ihr was Gescheites gelernt, müsstet ihr nicht so einen Scheißjob machen! Die wenigen Aufpasserinnen wurden gefragt, ob sie denn nicht Lust auf Geschlechtsverkehr hätten (die Wortwahl war anders). Ein Fan kletterte auf halbe Höhe des Zauns und machte einfach nur Bumsbewegungen. Dann gab es offenbar eine Schiri-Entscheidung, die ihnen nicht gefiel und sie starteten folgerichtig den klassischen „Hurensohn“-Gesang. Nur hörten sie diesmal nicht irgendwann auf, sondern gingen dazu über, uns anzugrölen. Diejenigen, die direkt vor mir waren, schauten mir dabei grinsend ins Gesicht und schienen im Himmel zu sein. Am Anfang grinste ich noch aus Verlegenheit zurück. Dann ging ich dazu über, einzelne Gesichter zu fixieren, weil ich hoffte, dass sie sich dann ertappt fühlen würden. Aber sie hörten nicht auf und ich zog mich an einen Ort tief in meinem Inneren zurück, an dem nur ein beruhigendes Bächlein plätscherte und eine liebliche Panflöte spielte.
Irgendwann war es vorbei. Wir sammelten uns und fuhren zurück. Viele Tage später grübelte ich noch darüber nach, ob ich vielleicht wirklich ein Hurensohn sei. Irgendwann erkannte ich aber, dass diese Frage irrelevant war und die Fans der Berner Young Boys mir nur auf ihre Art die Nichtigkeit meiner individuellen Existenz angesichts der Grenzenlosigkeit und Unergründbarkeit des Kosmos aufzeigen wollten. Deshalb, an die circa 500 Ultras damals in der Gästekurve des Letzigrund-Stadions und insbesondere an den engagierten jungen Mann, der die Absperrung gebumst hat: Danke. Ich wäre ohne euch heute nicht der Mensch, der ich bin.