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Horror-Mitfahrgelegenheit: Rückwärtsgang auf der Autobahn

Illustration: jetzt

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Die Strecke: von München nach Berlin 

Die Fahrerin: die ständig kichernde Anna

Horrorstufe: 6 von 10

„Um Gottes Willen“ war mein erster Gedanke, als Anna den Kofferraum ihres Minis öffnete. Wie bitte hatte die sich das denn vorgestellt? Zusammen mit einem Kumpel wollte ich mit ihr von München nach Berlin fahren. Wir hatten vor ein paar Tage zu bleiben und somit jeder einen Koffer dabei. Und jetzt präsentierte uns die Fahrerin ein winziges Auto, dessen Kofferraum bereits mit ihrem Zeug vollgestopft war.

Unser Gepäck die nächsten sechs Stunden auf dem Schoß zu halten, erschien uns beiden als keine besonders komfortable Aussicht. Genau das aber schlug uns Anna in gebrochenem Deutsch vor, nachdem wir erfolglos versucht hatten, unsere Koffer in den Kofferraum zu quetschen. Immerhin bei einem Gepäckstück klappte es. „Hihi“, sagte Anna, „den müssen wir mit nach vorne nehmen.“ Auf der Rückbank war tatsächlich noch Platz, also nahm mein Kumpel den Koffer zu sich nach hinten. 

Nachdem wir auf die Autobahn aufgefahren waren, eröffnete uns die ständig nervös vor sich hin kichernde Anna, dass sich noch ein weiterer Mitfahrer zu uns gesellen würde, den wir an einem Rasthof einsammeln müssten. „Dann wird noch enger“, erklärte sie uns, „hihi“. Wir fanden das alles weniger lustig. Auch wenn der Typ nur halb so viel Gepäck dabei haben würde wie wir, würde es so gut wie unmöglich werden, uns alle in den Mini zu zwängen.

Trotzdem versuchten wir, ein Gespräch mit unserer Fahrerin in Gang zu bringen. Aber außer der Erkenntnis, dass sie in Berlin ihren Freund besuchen wollte und in Mainz wohnte, brachten wir kaum etwas aus ihr heraus – außer diesem ständigen „Hihi“, mit dem sie die meisten unserer Fragen beantwortete. Wie lange wir nach Berlin brauchen würden? „Hihi.“ Was sie in Berlin vorhabe? „Hihi.“ Ob sie dort Clubs kenne, die sie empfehlen könne? „Hihi, ja, gibt‘s.“

Ob sie nicht einfach rückwärts fahren könne, wollte Anna von uns wissen

In der Zwischenzeit hatten wir das erste Hinweisschild erreicht, das in 500 Metern den besagten Rasthof ankündigte. „Ah, da vorne ist es“, sagte Anna und deutete auf die Abfahrt. Anstatt abzubremsen aber beschleunigte sie – und fuhr am Rasthof vorbei. „Scheiße!“, brüllte sie, fuhr rechts auf den Standstreifen und brachte den Wagen zum Stehen.

Wohl erschrocken über sich selbst wandte sie sich an uns. „Was machen wir denn jetzt?“ Wir rieten ihr das in unseren Augen einzig Mögliche: an der nächsten Abfahrt runter von der Autobahn, zurückfahren und wieder die Seite wechseln. Anna aber hatte eine bessere Idee. Ob sie nicht einfach rückwärts fahren könne, wollte sie von uns wissen. Wir lehnten entschieden ab. Anna aber ließ sich nicht beirren, haute den Rückwärtsgang rein und fuhr mitten auf der Autobahn 30 Meter zurück zur Ausfahrt. Neben uns rasten hupend die anderen Autos vorbei, im Rückspiegel sah ich das kreidebleiche Gesicht meines Kumpels. „Hihi“, hörte ich neben mir, als wir es wider Erwarten tatsächlich geschafft hatten und auf den Parkplatz fuhren.

Nach dem lebensmüden Manöver brauchten mein Kumpel und ich erst mal frische Luft und machten einen kleinen Spaziergang. Wir hatten beide kalte Schweißausbrüche und außerdem eine Menge Gesprächsbedarf. Sollten wir etwas sagen? Nach kurzer Diskussion entschieden wir uns dagegen. Immerhin war die Aktion ja bereits durch und – wie auch immer – gutgegangen. Als wir zum Auto zurückkehrten, lernten wir unseren dritten Mitfahrer kennen, der sich als Traveller aus den USA entpuppte und gerade daran scheiterte, seinen riesigen Rucksack und seine Gitarre im Kofferraum zu verstauen. Hätten wir ihm gleich sagen können, dass das nichts wird. In der Folge hatte ich die restlichen Stunden eine fremde Gitarre auf dem Schoß und mein Kollege einen durchgeschwitzten Backpacker-Rucksack. Währenddessen wurde Anna immer nervöser und ihr Fahrstil immer riskanter. Zwar kam sie jetzt nicht mehr auf die Idee, den Rückwärtsgang einzulegen, dafür zeigte sie plötzlich eine Schwäche beim Spurwechsel, ein ums andere Mal brachten uns ihre Manöver eine Lichthupe ein.

Irgendwann hatten wir es dann tatsächlich nach Berlin geschafft. Als wir eine rote Ampel ansteuerten, vor der die anderen Autos auf zwei Spuren warteten, hielt Anna sich in der Mitte und blockierte so beide Fahrbahnen. Wieder hupte es hinter uns. Anna schien das nicht zu stören. „Ist das eine Spur?“, fragte sie mich seelenruhig. Stumm deutete ich auf die beiden Reihen vor uns, woraufhin sie sich für die linke entschied.

Als Anna den Mini schließlich auf dem Vorplatz des Berliner Hauptbahnhofs abstellte, wandte sie sich ein letztes Mal an uns. „Hihi“, sagte sie, „haben wir es tatsächlich geschafft.“

Es klang nicht so, als hätte sie selbst daran geglaubt.

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