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"Wie lange dauert das noch?"

Illustration: Lucia Götz; Foto ApeCrime: Messe Berlin GmbH; Tom Maelsa

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Dante steht neben mir und fragt: „Wie lange brauchst du noch für deine Kolumne?“

„Ich weiß es nicht“, antworte ich.

„So ungefähr?“

„Ich weiß es wirklich nicht, Dante. Das hängt davon ab wie schnell mir ein Thema einfällt.“

„Eher eine Stunde oder eher drei Stunden?“

Er wird keine Ruhe geben, bis ich ihm eine Zeit sage. Das macht er nie. Dante ist ein Junkie, der ständig eine Zeitangabe braucht, wie der Heroin-Abhängige den nächsten Schuss.  

Im Auto: „Wie lange fahren wir noch?“ In der Küche: „Wie lange dauert es noch, bis es Abendessen gibt?“ Bei Freunden: „Wie lange bleiben wir noch?“ .

Die Antwort scheint dabei keine Rolle zu spielen. Egal welche Zeit ich ihm nenne, er hat daraufhin jedenfalls noch nie gesagt: „Ohjemine, dann muss ich wohl ein paar Termine verschieben.“ Ich weiß nicht, wo er das her hat. Wahrscheinlich von seinem Vater. Ich war das jedenfalls nicht, ich hab ihn schon so bekommen.

Wenn Dante groß ist, wird er bestimmt mal beim statistischen Bundesamt arbeiten. Oder in der Marktforschungsabteilung eines Herstellers von Beruhigungsmitteln. Sein Chef sagt dann in der Konferenz: „Herr Kim, was haben Sie für uns?“ Und Dante wird nach vorne gehen und anhand einer Flipchart-Präsentation erläutern: „Unsere Kernzielgruppe braucht durchschnittlich 23 Minuten um ein Abendessen zu kochen, verbringt im Schnitt 2,7 Stunden bei Freunden, fährt 34 Minuten mit dem Auto und kriegt nach 1,4 Stunden einen Schreianfall, wenn ihre Kinder ihr Spielzeug trotz wiederholter Anweisung nicht aus dem Flur geräumt haben.“ Dann wendet sich der Chef an die Verantwortlichen für die Werbung und sagt: „Meine Herren, Sie wissen was zu tun ist.“

Wo wir gerade über die Uhrzeit sprechen – ich lebe jetzt seit beinahe drei Monaten mit Sonja und ihren beiden Kindern Dante (11) und Paul (8) zusammen, und es gibt immer noch etwas, das ich nicht verstehe:          Dante und Paul sind jeden Morgen pünktlich um acht Uhr in der Schule. Dante und Paul sitzen jeden Abend pünktlich um 19:05 vor dem Fernseher und gucken Galileo. Weshalb ich mich also frage: WARUM, ZUM TEUFEL, SCHAFFEN SIE ES DANN NICHT EIN EINZIGES MAL UM 20:30 UHR IM BETT ZU LIEGEN???

 

Jetzt ist es offiziell: Ich bin wie meine Oma. Ich bin alt

 

„Eher eine Stunde“, antworte ich. „Ah, gut“, sagt Dante.

„Könntest du mich um vier vielleicht zum Saturn bringen?“

„Oh nee, muss das sein?“ stöhne ich.

„Hmm ... nein …  muss nicht“, sagt Dante und guckt dabei als wäre sein Hamster gestorben.

„Was willst du denn da?“

„ApeCrime geben dort eine Autogrammstunde“, sagt Dante aufgeregt. „Nicht dein Ernst, das ist heute“, frage ich aufgeregt.

„Ja“, ruft Dante noch aufgeregter.

„Geil! Sag das doch gleich“, rufe ich mindestens genauso aufgeregt.

„Aber, Dante … ?“

„Ja?“

„Was bitteschön ist ApeCrime?“

„Das sind drei Jungs die immer Wettbewerbe gegeneinander machen. Zum Beispiel, wer länger nicht aufs Klo geht.“

Dante guckt mich mit einem breiten Grinsen erwartungsvoll an. Ich blicke Dante schweigend an. Immer noch Schweigen.

Dann: „Du willst also ein Autogramm von einem Typen, weil er nicht pinkelt, wenn er muss?“

„Ach, du verstehst das nicht“, sagt er, wie ich es damals gesagt habe als ich meiner Oma Instagram erklären wollte und sie verächtlich abgewunken hat. Jetzt ist es offiziell: Ich bin wie meine Oma. Ich bin alt. Ich habe den Anschluss an die nächste Generation verpasst. Bald werden wir zusammen auf ihrem Sofa sitzen und uns gegenseitig von unseren Wehwehchen erzählen. Ich habe seit kurzem ein Stechen in der linken Hüfte. Es fängt schon an.

 

Um kurz vor vier sitze ich im Auto auf dem Weg zum Saturn. Auf der Rückbank diskutieren Dante und sein Schulfreund Luca über die Bestellliste ihrer Freunde. Anscheinend ist eine Autogrammstunde von ApeCrime ein Massenereignis, vergleichbar mit einem Konzert der Rolling Stones oder das WM-Finale, bei dem man dabei sein muss. Und wer nicht mitkommen kann, hofft, dass ihm jemand ein Souvenir mitbringt.

Dante: „Bringst du Jan eins mit?“

Luca: „Ich muss schon Matti und Bene eins besorgen.“

Dante: „Okay, dann lass ich erst meine Handyhülle unterschreiben und wenn es geht, dann noch einen Zettel für Jan und Tobi.“

Ich werde auch eingespannt und muss für Paul ein weißes T-Shirt unterschreiben lassen, weil er heute bei einem Freund ist und nicht mitkann.  

 

Musik machen die also auch. Find ich persönlich aber eher scheisse

 

Als wir im Saturn ankommen, stellen wir uns ans Ende einer kleinen Schlange von 8- bis 14-Jährigen vor einer leeren Bühne und warten. Und warten. Und warten.

„Wie lange dauert das denn noch?“, frage ich.

„Weiß ich nicht“, sagt Dante.  

„So ungefähr?“

„Ich glaub um fünf soll's losgehen.“

Ich gucke ihn entsetzt an. „Warum sind wir denn dann so früh losgefahren?“

„Lieber zu früh als dass wir zu spät sind und kein Autogramm mehr bekommen.“

 

Also warten wir weiter. Und die Zukunft unserer Erde diskutiert derweil darüber, wie sie ihre Helden nachher begrüßen werden. Zur Auswahl stehen Umarmung, Handschlag oder die Faust. Über die Lautsprecher des Elektroladens läuft währendessen Musik aus der neusten CD der Jungs. Musik machen die also auch. Find ich persönlich aber eher scheisse. Im Gegensatz zu einem kleinen Mädchen hinter mir in der Schlange, die ich sagen höre: „Ich muss nur einmal ApeCrime live sehen, dann kann ich sterben.“

 

Um fünf Uhr betritt ApeCrime endlich die Bühne. Ein Kind nach dem anderen tritt nach vorne, reicht einem der Securities am Bühnenrand sein Handy damit er ein Foto von ihm neben seinen Helden machen kann, und holt sich sein Autogramm ab. Als ich dran bin und der Security-Mann mein Handy haben möchte, lehne ich freundlich ab. „Nein, danke.“ Der Sicherheitsmann guckt mich misstrauisch an. Ein Mann mit Bartwuchs, der kein Foto von ApeCrime haben möchte? Das kann nur ein Terrorist sein. „Ich bin nur hier um für meinen Sohn ein Autogramm zu holen“, sage ich schnell und zeige ihm Pauls T-Shirt. Das scheint ihm als Beweis zu reichen. Als wir zurückkommen, hüpft Paul vor Freude über das Mitbringsel durch den Flur. Dann verziehen die beiden Kinder sich in ihre Zimmer und überlegen, wo sie die Devotionalien aufhängen. Ich gehe solange ins Wohnzimmer, lehne mich aus dem Fenster und gucke, was auf der Straße passiert. Es passiert überhaupt nichts. Es ist furchbar fad. Aber ich muss üben, ich bin schließlich alt. Also fragt mich bitte nicht, wie lange ich vorhabe, hier zu stehen. Ich weiß es wirklich nicht …

 

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