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Was mir das Herz bricht: Überforderte Menschen an Lautsprechern

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Wenn man einmal ungestört Zugfahren möchte, gibt es einen unschlagbaren Trick: Man muss dann fahren, wenn alle anderen Menschen einen sehr guten Grund haben, zuhause zu bleiben. Das kann eine sehr frühe Uhrzeit sein, ein Tag, an dem Menschen mit echten Berufen arbeiten müssen oder eben ein sehr sehr begehrtes Fußballspiel. Zum Beispiel das WM-Halbfinale Deutschland gegen Brasilien.  

Ich sitze also nahezu allein im ICE, kaue auf der Yorma’s-Schnittlauchbrezel und freue mich auf eine ruhige Fahrt, als es auf einmal ein Knacken im Zug gibt. Das kenne ich natürlich: Über den Lautsprecher wird nun „Nächster Halt: Jena Paradies“ angesagt. Ich freue mich darauf, denn die Durchsage bedeutet, es geht voran. Dann aber bemerke eine ungewohnte Lautfolge. Es klingt wie ein Ruckeln, was darauf folgt, ist ein sehr lautes und angestrengtes Atmen. Jemand scheint sich sehr zu konzentrieren, was seltsam ist, denn Jena Paradies wird doch vermutlich häufiger angesagt, oder? In dem Moment, in dem aus dem Lautsprecher anstatt „Liebe Fahrgäste“ ein unsicheres „Liebe Fußballfreunde“ herausschallt, ist allerdings bereits alles zu spät: Das Herz wird brechen und im Gegensatz zu diesem Lautsprecher wird es dafür nur ein „Knack“ benötigen.  

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert

Knack!

Denn die folgende Darbietung ist nicht nur für alle im Zug hörbar, sie geschieht auch unter Zwang. Vielleicht, weil gutgelaunte Kollegen gesagt haben: „Hannelore, jetzt sach’ mal das freudige Ergebnis durch“, und Hannelore nicht wusste, wie sie sich dagegen wehren soll. Vielleicht ist sie sogar eine Untergebene und es war eine Anweisung des Zugführers, jetzt mal richtig für Stimmung zu sorgen. Hannelore ist aber keine Stimmungskanone. Sie ist zufrieden, wenn sie Fahrkarten kontrolliert und den Menschen von Angesicht zu Angesicht sagen kann, auf welches Gleis sie beim Umsteigen wechseln müssen. Das ist ihr Job und den macht sie sehr freundlich und gut. Hannelore träumte nie davon, die Oscarverleihung zu moderieren, geschweige denn ein Fußballspiel zu kommentieren. Trotzdem wird sie nun dazu gezwungen und der ICE fühlt sich für sie trotz seiner Leere wie ein gut gefülltes Stadion an.

Hannelore sagt nun: „Bei dem Spiel...“ Pause. Knacken. Knistern vom Zettel, dann Freude in der Stimme, dass sie den Text wiedergefunden hat: „Brasilien gegen Deutschland steht es jetzt... ähm... null zu eins.“ Wieder knackt es in der Leitung. Man denkt „Puh, das war nicht so schlimm wie erwartet“, aber der Mensch, der Hannelore in diese aussichtslose Situation getrieben hat, murmelt nun etwas im Hintergrund. Wieder schweres Atmen, dann sagt sie noch mit Jena-Paradies-Euphorie: „Also Deutschland führt. Und... der Torschütze: Thomas Müller“. Mehrmaliges Rumpeln, das Einhängen des Zugtelefons will nicht so richtig gelingen. Glücklicherweise ist das Hannelore bewusst und sie verzichtet darauf „Ist das Ding jetzt aus?“ zu fragen, wie es Menschen bei der Aufnahme einer tristen Anrufbeantworteransage so gerne tun. Auf dass jeder ihrer Anrufer die nächsten 20 Jahre mit einem „Sprechen Sie nach dem Piep. Knack. Knister. Ist das Ding jetzt aus? Knack. Pieeeeeeeeep“, begrüßt werde.  

Im Zug herrscht Stille. Denn das hier ist nun mal kein Stadion und keine Oscarverleihung. Es ist ein ICE, in dem als Highlight Currywurst aus der Mikrowelle serviert wird. Keiner klatscht enthusiastisch oder bricht in Tränen aus. Deutschland gegen Brasilien wird zu „Jena Paradies“, nur dass hier auf einmal alle sehr gerne aussteigen würden. Oder zumindest jemand Hannelore in den Arm nehmen sollte. Denn man ahnt bereits: Aus der Nummer kommt sie nicht mehr raus, wenn noch weitere Tore fallen. Und das tun sie dann auch. Sechs Mal. Nach dem fünften hat Hannelore allerdings bereits aufgegeben. Vielleicht, weil sie damit beschäftigt ist, einen Krankenwagen für all die gebrochenen Herzen in diesem Zug zu rufen. Das kann sie dann zumindest ganz für sich tun, ohne Lautsprecher.

Text: charlotte-haunhorst - Illustration: Katharina Bitzl

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