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"Genau so stelle ich mir Kanada vor!"

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      Aus irgendeinem Grund ist Kanada für viele Menschen aller Altersgruppen das IKEA-Bällebad unter den Reisedestinationen. Jedenfalls wird dieser Hauptsatz massiv geseufzt, sobald man eines rot verfärbten Ahornblattes ansichtig wird, oder wenn eine Welle auf dem Ismaninger Speichersee mal weiße Gischt trägt. Wer in solch stimmungsvolle Situationen gerät und bereits in Kanada war, sagt in Abwandlung: „Das könnte jetzt hier auch Kanada sein.“ Die Griechen hatten Arkadien, wir haben Kanada. Der Vergleich adelt alle Landschaften der Welt und ist immer dann angebracht, wenn wahlweise Wasser mit Felsen, Wälder mit Schnee oder alles zusammen plus kühle Stimmung auftreten. Es klingt dabei immer zu gleichen Teilen ein Sehnsuchtsschrei mit, in der Art, dass man die Zeltferien in Kanada doch endlich mal in Angriff nehmen müsste und die Resignation, dass es wohl doch nie klappen wird. Wer Kanada sagt, meint eigentlich: Durchschnaufen können, keinen Menschen weit und breit treffen und deshalb ungestört Mensch sein dürfen, Abenteuer und Bären, die in der Luft liegen.

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„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



  Kanada ist ein territorial gewordener Freiheitsbegriff, brutal mehrheitsfähig. Wann immer jemand in Mitteleuropa die Schnauze voll hat, wünscht er sich dorthin, da hat das Marketing des Landes gute Arbeit geleistet. Dabei gibt es frische Luft und Bären zum Beispiel auch in Kamtschatka und im Bayerischen Wald. Die hört man aber nie stoßgeseufzt und hingewünscht. Gut, gelegentlich wird bei den Stoßseufzern auch noch Schottland bemüht, dann aber eher, wenn es um grüne Hügel mit Schafen, Knollnasen und Dauerregen geht. 

  Es wäre interessant zu erfahren, was Kanadier so sagen, wenn sie in die kanadische Wildnis schauen. „Typisch unser Land!“? Noch interessanter wäre es, bei welchen Anlässen und Situationen die Menschen auf der restlichen Welt „Genau so stelle ich mir Deutschland vor!“ ausrufen. In einer Autobahn-Fabrik? Oder angesichts eines ganz durchschnittlichen Tellergerichts mit Erbsen? 

 Dabei geht es bei diesem Hauptsatz ja gar nicht so sehr um geographisches Unterscheiden, sondern vielmehr um individuellen Eskapismus. Wer auf einem weitläufigen Anwesen in der Lüneburger Heide residiert, stellt sich Kanada bestimmt seltener vor, als jemand, der jeden Tag im vierten Stock unter einem Furnier-Tisch von Segmüller einschlafen muss. Den laden die Begriffe Blockhaus und Wildbach, die sich patentgeschützt hinter Kanada verstecken, wahrscheinlich zu einer besseren Party im Kopf ein. Der in der Heide denkt stattdessen angesichts von sieben Baumstümpfen lieber an die Skyline von New York oder, wenn er auf der Wiese steht, an Wiesbaden. Seufzen tun sie beide. Schließlich will jeder, der irgendwo ist (und, ganz wichtig, irgendwo muss jeder sein!) eben auch immer ein bisschen weg. Ganz normal. Nur dass sich ein so großer Teil der Menschheit so dringend nach Kanada verfügen möchte, ist ein Rätsel, das durch diesen Text absichtlich nicht vollständig geklärt wird. Wäre ja langweilig.


Text: max-scharnigg - Illustration: Katharina Bitzl

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