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"Diesmal schenken wir uns aber nichts"
Meine Kindheitserinnerung an den 24. Dezember dürfte dem westeuropäischen Standard entsprechen. Die Geschenke lagen stets als weite Moränenlandschaft unter dem Baum, der in manchen Jahren dahinter regelrecht verschwand. Ich musste sie nummerieren, um Übersicht zu behalten und aus dem Geschenkpapier wurde im Hinterhof ein Feuer gemacht, das bis Mariä Lichtmess brannte. Diese Zeit des Überflusses währte, bis ich zehn Jahre alt war. Dann fand meine Mutter, ich wäre reif genug, das Prinzip des Verzichts kennen zu lernen. "Jeder nur ein Geschenk", wurde ihre Parole. Zum Glück setzte meine jüngere Schwester dieser künstlichen Verknappung einen lauten Generalstreik entgegen. Sie rettete so jene wunderbaren Sekunden nach Öffnen der Wohnzimmertüre, in denen das Auge trotz Bemühung die Pracht nicht fassen konnte. In denen, von Musik und Kerzen befeuert, ein Schwindel das Kinderhirn ergriff, der das Kind taumeln ließ, bis es an den Ausläufern der Paketströme zu knien kam.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Die "Jeder nur ein Geschenk"-Propaganda hielt sich aber dauerhafter als die Kinderknie, ja sie wurde sogar mit den Jahren noch verschärft, zum markigen: "Diesmal schenken wir uns nichts!". Schließlich sind alle Beteiligten inzwischen erwachsen und können ein "gutes Essen" und "schönes Konzert" als durchaus nachhaltiger begreifen als irgendwelche neuen Küchengeräte. Jeder von uns Kindern pflichtet meiner Mutter am Telefon also sofort bei, wenn sie ihre Absicht eines geschenkfreien Weihnachtens bekräftigt. Auf diesen Anruf wartet der deutsche Einzelhandel jedes Jahr sehnsüchtig, denn er markiert den Einstieg der Familie Scharnigg in den Konsummarathon. Auch wenn meine Schwester das Gegenteil behauptet, ich persönlich könnte ja auf Geschenke verzichten, weiß aber, dass besagte Schwester darauf besteht und andere Familienmitglieder sogar imstande wären, die Bescherung platzen zu lassen, wenn nicht ordentlich Küchengeräte und Best-Of-CD's auf den Tisch kämen. Überhaupt wäre es nicht wie immer, wenn sich jemand an das Verdikt halten würde. Weihnachten ist nun mal das "wie immer"-Fest. Kleinste Abweichungen vom traditionellen Ablauf können innerliche Verwüstungen hervorrufen. Es wird also auch diesmal so sein, wie immer. Wir werden am 23. Dezember von allen Seiten anreisen und die Straße vor dem Haus wird polizeilich gesperrt werden müssen, weil der Geschenkehaufen beim Ausladen alles blockiert. Meine Mutter wird uns damit schockieren, dass sie diesmal "wirklich nichts" für uns hat und während wir um Fassung ringen wird die Tür der Speisekammer unter lautem Krachen zerbersten und wir werden unter Paketen und Päckchen begraben. Wie immer, eben.