Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Das ist doch inszeniert“

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Erste Bürgerpflicht ist es, gegenüber dem Fernsehprogramm misstrauisch zu sein. Das fing bei mir schon als Kind an, wo in einer der wenigen Sendungen, die ich gucken durfte, ein wichtiger Charakter namens Lockvogel auftrat. Seine Aufgabe war es, ahnungslose Passanten (damals gab es noch Passanten) abgefeimt hinters Licht zu führen, damit sich später ein nicht ganz so ahnungsloses Samstagabendpublikum daran erfreuen konnte. Dank dieser Prägung halte ich an typischen „Verstehen Sie Spaß“-Orten (Wellenbad, Grenzübergang oder Umkleidekabine) heute immer noch massiv Ausschau nach dem Lockvogel, sobald etwas nicht funktioniert, etwa der Schlagbaum nicht hoch oder die Tür nicht aufgeht.

Default Bild

„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.

Illustration: Julia Schubert



Diese erste Lektion des Misstrauens lehrte, dass das Fernsehen die Wirklichkeit beeinflussen konnte, auch wenn gar kein TV-Apparat in der Nähe war. Unheimlich! Etwas später durfte ich dann auch mal Aktenzeichen XY sehen, ein Format, das mit seinen schaurig nachgespielten Sketchen schon viel von den heutigen Real-Soaps vorweg nahm. Da sagte zwar daheim keiner „Das ist inszeniert!“, dafür sagte es der Moderator vorsichtshalber zehnmal pro Abend. Und ich lernte, dass es kein Problem für das Fernsehen war, die letzten Minuten der unbescholtenen Frau Irmgard H. aus Lippstadt derart echt zu inszenieren, dass sich die Zuschauer auf einmal an den Mörder erinnerten und ihn nach dem Wackelpudding (Waldmeistergrün!) dem ZDF verrieten. Wieder später war es auf dem Pausenhof groß in Mode, über das Thema Playback bei öffentlich-rechtlichen Musikauftritten zu fachsimpeln. Das lag weniger an der Mini-Playbackshow, als vielmehr an dem kribbelnden Gefühl, wir wären damit einem ganz großen Verrat auf der Spur. Wir ahnten damals ja dringend, dass die Welt schlecht war und Playback war für uns die Einstiegsdroge in diesen ganzen verlogenen Scheiß. Ha! Nicht mit uns! Seitdem verwenden wir den Hauptsatz, wann immer unsere Schulweisheit nicht mit den Bildern auf dem Fernsehschirm korrespondiert. Heute ist man mit dem Hauptsatz bei gut der Hälfte aller Fernsehformate auch gut beraten. Viele Shows ziehen ihren Unterhaltungswert überhaupt nur noch aus dem Effekt, dass die Zuschauer über die Frage „Inszeniert oder nicht inszeniert?“ rätseln können. Während in Talkshows und bei Scheidungskindermodels-Reportagen früher noch original verhunzte Menschen vor die Kamera gezerrt wurden, wird heute alles schneller und noch eine Spur kaputter nachgespielt. Im Grunde ist das auch viel umweltschonender und schaukelt uns Zuschauer sanft in eine bessere Welt – denn alles was uns demnächst noch stört, lässt sich mit dem Gedanken „Ist doch bestimmt auch nur inszeniert!“ locker verdrängen. Verstopfte Abflüsse in der Dusche, zum Beispiel. 



Text: max-scharnigg - Illustration: Katharina Bitzl

  • teilen
  • schließen