- • Startseite
- • Hauptsache: Reset
-
•
Was wir vom Aussterben des Telefonbuchs lernen können.
Telefonbücher können einem leidtun. Wie Schlüsselkinder, die ihre Schlüssel verloren haben, stapeln sich die schweren Schinken in den Hauseingängen großstädtischer Mietshäuser. Vorbei die Zeit, da sie griffbereit in warmen Stuben lagen. Seit fast jeder, sogar Omas, ein Telefon mit integriertem Telefonbuch besitzen, seit jedes Kind eine Telefonnummer googeln kann, ist das dicke Buch mit all seinen Ziffern überflüssig. Zwar blättert von den Deutschen, die älter als 55 Jahre sind, immerhin noch jeder Dritte häufig im Telefonbuch, wie eine Umfrage des Marktforschungsinstitutes YouGov herausfand. Doch stirbt dieses Publikum aus. Und mit ihm das Produkt. Mit viel Glück sieht das gedruckte Nummernregister einem Schallplatten-Schicksal entgegen: Für einige wenige Nutzer und ihre Nostalgie wird es noch taugen. Die Nische wird ihm zum Hospiz. Doch früher oder später kommt es endgültig auf den Friedhof der Dinge. Obwohl seine Produzenten trotzig versuchen, es in eine Zeit zu retten, die es nicht mehr braucht.
Jeder von uns hat mindestens ein solches Telefonbuch in seinem Leben. Ein Hobby, das man so sträflich vernachlässigt hat, dass man es eigentlich längst lassen kann. Das keine Chance mehr hat, selbst wenn man noch mal den Reset-Knopf drücken will. Wer ein Jahrzehnt lang nicht Klarinette oder Squash gespielt hat, riskiert nur Muskelkater und Frust über den eigenen Abbau. Ebenso kann ein Vorhaben oder eine Idee, einst noch so wertvoll und vornehm, inzwischen aus der Mode, außer Reichweite gekommen oder einfach sinnlos geworden sein. Selbst eine Freundschaft, verheddert in Missverständnissen, die kein Gespräch mehr zu klären vermag, kann zum persönlichen Telefonbuch werden.
1881, als das Buch erstmals unter dem Namen "Verzeichnis der bei der Fernsprecheinrichtung Beteiligten“ erschien, war es schlicht logisch. Nach hundert Jahren Öffentlichrechtlichkeit wurde es 1981 privatisiert. Es war Geld zu verdienen mit den Nummern und der Werbung drum herum. In den späten Neunzigern ging es online, weil alles online ging. Und hier begann die Misere: Das Telefonbuch ins Netz holen? Das wirkte damals schon wie ein Passagier der Titanic, der mit einem Kopfsprung ins kalte Wasser hopst, um schneller ans rettende Ufer schwimmen zu können.
Manchmal hilft ein letzter Versuch. Vor allem Menschen haben ihn verdient.
Auch diese Notwasserung ist uns vertraut. Statt Cognacschwenker schwenkend den Zahn der Zeit die letzten Reste eines Relikts abnagen zu lassen, bäumen wir uns auf und stellen auf stur. Rufen Menschen an, die nie zurückrufen. Noch mal und noch mal. Kaufen uns eine neue Klarinette und erzählen allen, dass wir „bald wieder angreifen“, aber spielen doch nie. Planen ein Squash-Bootcamp mit Lehrer und Mitspielern, das wir nie antreten.
So laden wir die eigenen Telefonbücher weiter ab, nerven die Welt und uns selbst. Oder wechseln das Medium, gehen quasi online wie die Telefonbüchler, die heute unter www.das-telefonbuch.de eine Seite voller Werbung feilbieten, mit dem Versprechen: „Mehr als Adressen und Telefonnummern.“ Aber wer will überhaupt mehr?
Ganz manchmal hilft ein letzter Versuch. Vor allem Menschen haben ihn verdient. Ihnen treu zu bleiben, ist edel. Aber auch hier gilt: Aufmerksamkeit im Zweifel lieber auf die jetzigen Begleiter. Sie haben sie wahrscheinlich eher nötig. Denn aus Nostalgie an etwas oder jemandem festzuhalten, ist Verschwendung knapper Ressourcen und unfair gegenüber allen, die in Gegenwart und Zukunft wichtig sind.
Die Fähigkeit zum Kämpfen, zum Resetten ist wichtig, wenn man sein Leben nicht verlumpen mag. Doch wichtiger noch ist die "Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann“, wie es im kaputt zitierten „Gelassenheitsgebet“ des amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr heißt. Wissen, wann es gut ist. Oder eher: Gut war.
Wie also vom Reset zurücktreten? Lernen wir ausnahmsweise von der Telekom: „Das Telefonbuch gehört nicht zu den Bereichen, auf die wir uns konzentrieren wollen“, sagte ein Unternehmenssprecher kürzlich. Für knapp 100 Millionen Euro verkaufte man das Telefonbuch an lokale Verlage. Ein vorbildlicher Ausstieg aus der Spirale der Neuerfindung: Übergabe an andere. Noch besser machen es die Pflanzen. Sie lassen Blätter, die nicht mehr zu retten sind, friedlich absterben. Apropos: Telefonbücher werden aus totem Holz gemacht.