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Junge Ukrainer proben den Neuanfang

Foto: Charlotte Haunhorst

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 Nach drei Stunden schmeckt die Unterlippe leicht nach Blut. Sie ist von der Kälte aufgesprungen. Draußen im ostukrainischen Charkiw sind -12 Grad, sogar auf den Hauptverkehrsstraßen liegt knöchelhoch der Schnee. Trotzdem wird in den Räumen des Kinder- und Jugendtheaters nicht geheizt. „Kein Geld“, sagt Dramaturgin Margarita und zuckt entschuldigend mit den Schultern. Nur ein kleiner Heißlüfter, wie man ihn in Deutschland im Badezimmer stehen hat, bläst tapfer durch den Zuschauerraum, aus dem der deutsche Regisseur Markus Bartl seine Anweisungen ruft. Morgen soll hier das Stück „Depeche Mode“ nach dem Roman des in Charkiw aufgewachsenen Schriftstellers Serhij Zhadan aufgeführt werden. „Dann auch mit Regen“, sagt Bartl und zeigt an die Decke, wo an die Regenwasserzisterne angeschlossene Gardena-Rasensprenger hängen. Das ist Einsatz: Nasse Darsteller in einem Raum, in dem die Zuschauer vor Kälte Daunenjacken und Pelzmäntel tragen. 
Kostja scheint trotzdem nicht zu frieren. Der 20-Jährige steht nur mit Sweatshirt und Jeans bekleidet auf der Bühne, die Haare hat er punkermäßig zur Hälfte abrasiert. Kostja brüllt „Ich glaube nicht an Politik, glaube nicht an Zivilisation, glaube nicht an Kirche, an soziale Gerechtigkeit.“ Es ist sein Abschlussmonolog in dem Stück – das letzte Aufbegehren nach vier Stunden Probe. 
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Charkiw ist die Stadt mit den meisten Universitäten in der Ukraine. Die Familien sind hier oft zerissen. So lebt Emils (im Bild ganz rechts) Familie immer noch auf der Krim, Lidias (4. von links) Patenonkel hat sich den Separatisten angeschlossen.

Foto: Charlotte Haunhorst
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Das Kinder- und Jugendtheater in Charkiw. Weil aus Kostengründen nicht geheizt wird, trägt Regisseur Markus Bartl stets seine rote Daunenjacke.

Foto: Charlotte Haunhorst
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In der Ukraine gab es nie viel Geld für Kultur. Seit dem Krieg fast gar keines mehr.

Foto: Charlotte Haunhorst
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Kostja bei der Generalprobe von "Depeche Mode". Weil es im Theater so kalt ist, haben sie die Regenanlage erst einmal ausgeschaltet.

Foto: Charlotte Haunhorst
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Das Stück "Depeche Mode" handelt vom Aufwachsen in der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Themen sind auch heute wieder aktuell.

Foto: Charlotte Haunhorst
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In dem Stück wird vor allem gesoffen. Als Kotze verwendet der Regisseur grüngefärbten Kartoffelbrei.

Foto: Charlotte Haunhorst
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Die Büste des früheren sowejtischen Außenministers Molotow spielt in dem Stück eine zentrale Rolle.

Foto: Charlotte Haunhorst
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Hinter der Bühne: Ein Heizstrahler sorgt für etwas Wärme.

Foto: Charlotte Haunhorst
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In der Pause wischen Reinigungskräfte das Regenwasser auf.

Foto: Charlotte Haunhorst
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Nach der Aufführung schenken die Darsteller Regisseur Markus Bartl (rote Jacke) noch ein T-Shirt mit seinem Namen. Sie hoffen auf eine Theatertournee.

Foto: Charlotte Haunhorst

Obwohl Kostja Ukrainisch spricht, bekommt man beim Zuhören eine Gänsehaut. Denn eigentlich geht es in dem Stück ums Erwachsenwerden in der Ukraine in den Neunzigerjahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion. Wo alle zerstritten waren und man als junger Mensch nur noch saufen und Drogen nehmen konnte, weil es ja sonst nichts zu tun gab. Wo nach der großen Euphorie auf einmal klar wurde, dass nichts besser werden würde und dass die gleichen Männer weiterhin die Macht haben würden. Das alles fühlt sich, wenn man Kostja zuhört, wieder sehr aktuell an. Vor allem mit dem Wissen, dass seine Familie in Harliwka, rund 250 Kilometer südöstlich von Charkiw lebt. Und dass er sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hat, weil sein Land wieder zerfällt und Harliwka mittlerweile in der selbsternannten Volksrepublik Donezk liegt – also von prorussischen Separatisten kontrolliert wird. Genau ein Jahr nach Minsk II, dem Abkommen, das die Gegend wieder stabilisieren sollte, nehmen die Kämpfe wieder zu.

Wenn man Optimist ist, kann man sagen: Die Ukraine ist ein Land, das sich alle zehn Jahre neu erfindet. 1991 die Unabhängigkeit von der Sowjetunion, 2004 die Orangene Revolution mit ihrem Versprechen, irgendwann mal richtig zu Europa zu gehören. 2013 dann die wochenlangen Proteste auf dem Maidan in Kiew, nach denen es tatsächlich Neuwahlen gab. Die Geschichte eines Volkes also, das sich nicht kleinkriegen lässt, immer wieder gegen Korruption und die beschissenen Verhältnisse aufsteht.

Wenn man Pessimist ist, kann man aber auch sagen: Es ist die Geschichte eines Volkes, bei dem sich trotz Revolution nichts ändert. Wo vielleicht sogar alles schlimmer wird. Seit 2014 herrscht in der Ukraine Krieg. Die Krim wurde von Russland annektiert, in den ostukrainischen Regionen Donezk und Lugansk kämpfen immer noch prorussische Separatisten gegen die ukrainische Armee. Der nach den Maidan-Protesten gewählte Präsident Petro Poroschenko hat viele seiner Versprechen nicht gehalten. 

Die einen sagen, der Krieg habe die Ukrainer als Volk erst so richtig zusammengeschweißt. Die anderen sagen, es sei so gespalten wie noch nie. Das kann man im Theater spüren, wo einem ein Darsteller im ersten Satz sagt, es sei toll, wie patriotisch man jetzt wieder sei, und auf eine kleine gelb-blaue Fahne über der Tür deutet. Und im nächsten behauptet, der Kostja sei ja leider ein Separatist, mit dem müsse man aufpassen.

Und auch wenn man das Theater verlässt und raus in den Schnee geht, ist die Zerrissenheit spürbar. Hier gibt es viel Industrie, auf der Straße sind auffällig viele Porsche Cayennes unterwegs. Eine Statur wurde mit blau-gelber Flagge geschmückt, zur russischen Grenze sind es 30 Kilometer. In „Depeche Mode“ fahren sie über diese Grenze, um günstig russischen Wodka zu kaufen. 20 Jahre später wird der Autor des Buches, Serhij Zhadan, in Charkiw von prorussischen Separatisten verprügelt, der Bürgermeister sitzt seit einer Schießerei im Rollstuhl. Und auch wenn Charkiw nie von den Separatisten eingenommen würde – die Angst davor ist immer noch nicht weg. 

„Das wäre eine wirtschaftliche Katastrophe“, sagt zum Beispiel der Student Emil. Er weiß, was Verlust bedeutet: Der 20-Jährige im blauen Sakko kommt von der Krim. Wenn er seine Familie besuchen will, muss er Checkpoints kontrollieren und darf kein schlechtes Wort über Russland verlieren. Emil ist wütend. Wütend, dass niemand etwas getan hat, als die russischen Truppen in seiner Heimat einmarschierten. Wütend, dass sich nun, knapp zwei Jahre später, bereits jeder bereits damit abgefunden hat, dass die Krim weg ist. Nun studiert Emil in Charkiw internationales Recht. Nur so, sagt er, könne er vielleicht herausfinden, was man gegen die Annektion machen kann.

"Was bringt es, dass sie ein paar Straßennamen ändern, wenn im Parlament noch die alten Gesichter sitzen?"

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und die mit den meisten Universitäten. Emil trifft sich abends mit zehn anderen Studenten an seiner Uni. Auch hier wird gespart, in manchen Gängen müssen die Studenten sich ihren Weg mit dem Handy leuchten, weil kein Licht brennt. An einer Wand hängt ein Foto von Köln. „Create your own future – Germany, land of ideas“ steht darunter. Vor Kurzem verbreitete der vom russischen Staat mitfinanzierte Auslandsfernsehsender „Russia Today“ eine Studie, die behauptete, 80 Prozent der jungen Ukrainer würden ihr Land verlassen wollen – wegen der Angst, beim Militär eingezogen zu werden, der Korruption, der schlechten Wirtschaftslage. Da mag russische Propaganda mitschwingen, aber auch der Bertelsmann-Stiftung zufolge verlassen immer mehr junge Ukrainer ihr Land, um in der EU zu studieren.

Wenn man hier in die Runde fragt, wer weg möchte, meldet sich allerdings nur einer – der Jurastudent Ludwig. Er sagt: „Nach dem Maidan haben viele endgültig ihre Illusionen verloren, dass sie etwas verändern können.“ Er selbst zählt sich auch dazu. Sein Kommilitone Liam ergänzt: „Was bringt es, dass sie ein paar Straßennamen ändern, wenn im Parlament immer noch die alten Gesichter sitzen?“

Bei den anderen überwiegt allerdings der Idealismus. Die 19-jährige BWL-Studentin Lidia engagiert sich bei einer Anti-Korruptions-Organisation, sie möchte Steuerinspektorin werden. Der Berufswunsch ist idealistisch, denn das Korruptionsproblem in der Ukraine ist riesig, auch wenn natürlich jeder Politiker offiziell daran etwas ändern möchte. Aber Lidia sagt: „Wenn sich in der Politik nichts tut, dann müssen wir das eben in die Hand nehmen.“ Die Psychologie-Studentin Anna pflichtet ihr bei: „Es gibt dieses Zitat 'Ich liebe mein Land, aber ich hasse meinen Staat'. Das trifft es ganz gut.“ Nicken in der Runde. So etwas wie eine Bürgergesellschaft, die die Aufgaben übernimmt, die der Staat nicht auf die Reihe bekommt, das wäre für viele hier die Lösung. Und damit dann langsam einen Umsturz erzwingen. Aber wer hat dazu noch die Kraft?  

Wenn die Währung weiter fällt, kommt ein vierter Job hinzu – oder man entschließt sich halt doch, Schmiergelder anzunehmen.  

Zurück ins Jugendtheater. Die Darsteller sind nach den stundenlangen Proben spürbar erschöpft. Trotzdem hören sie aufmerksam zu, als Regisseur Markus Bartl im Anschluss noch einmal letzte Anweisungen gibt. „Die Kiffer-Line müsst ihr nochmal üben“ sagt er zu Kostja. Der grinst, haut seinem Kollegen auf die Schulter und sagt: „Das tun wir doch jeden Tag!“ Über die Zeit haben sie sich angefreundet mit dem deutschen Regisseur, der „Depeche Mode“ zuvor bereits mit seinem Kollegen Philipp Kiefer am Landestheater Niederbayern in Landshut inszeniert hat. Die Zusammenarbeit mit Charkiw kam über das Auswärtige Amt und das Goethe-Institut zustande. Das ist eine große Sache, denn seit dem Krieg wird in der Ukraine kaum noch Geld in Kultur investiert. Die meisten Darsteller verdienen 40 bis 80 Euro monatlich, haben noch Zweit- und Drittjobs, um zu überleben. Wenn die Währung weiter fällt, kommt noch ein Vierter hinzu – oder man entschließt sich halt doch, Schmiergelder anzunehmen. Aber dann wäre man halt genau so mies wie die, die man eigentlich loswerden wollte – und die Geschichte würde sich erneut wiederholen.

Am nächsten Tag sind um 18 Uhr, als das Stück beginnt, trotz ausverkaufter Vorstellung, viele Reihen leer. Regisseur Markus Bartl machen die leeren Reihen nicht nervös: „Das liegt vielleicht am Wetter“ sagt er. Und tatsächlich: Eine halbe Stunde nach Vorstellungsbeginn strömen immer noch Menschen mit Schnee auf den Fellmützen ins Theater.

 

Immer wieder klingelt ein Handy, während Kostja und seine Kollegen auf der Bühne die Büste eines sowjetischen Politikers durch die Gegend tragen, vom Militär blutig geprügelt werden und grüngefärbten Kartoffelbrei kotzen. Die Darsteller lassen sich nicht ablenken, sie alle sind an Schauspielschulen gut ausgebildet worden. Im Publikum wird oft gelacht, auch wenn es eigentlich traurig ist. Nach dreieinhalb Stunden gibt es Standing Ovations und Regisseur Bartl flüstert: „Die Darsteller wären auch in Deutschland super“. Morgen hat er einige Gesprächstermine, er hofft, dass sie das Stück mit einer Theatertournee vielleicht auch nach Europa bringen können. 

 

Ob das klappt, ist noch ungewiss, und erst recht weiß noch keiner, wann es soweit sein könnte. Aber selbst wenn es lange dauert: Dann gäbe es wenigsten einen kleinen Trost, wenn sich die Verhältnisse in der Ukraine nicht bessern. Denn dann wäre das alte Stück auch weiterhin aktuell. 

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