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Plädoyer für das Nebeneinander
Wenn es ganz still ist in meiner Wohnung und ich meinen Kaffee brühe, höre ich manchmal das schwerfällige Stöhnen eines trägen Liebesakts von oben, am Ende ein inbrünstiges „WAHHHHH!“. Wenn ich dann auf die Uhr schaue, ist es meistens Punkt elf. Er spritzt pünktlich wie die Kuckucksuhr. Eine Frauenstimme hört man jedoch nie, also gehe ich davon aus, dass es sich hier um den täglichen Vormittagsporno handelt, den sich diese fremde Person genehmigt.
Ich werde Zeuge von Gepflogenheiten und Tagesritualen von gesichtslosen Menschen, deren Bekanntschaft ich niemals machen möchte: meinen Nachbarn. Mir stellen sich die Nackenhaare auf, wenn ich sie höre und mir vorstellen muss, was sie tun, ganz dicht bei mir, nur durch dünnes Mauerwerk getrennt. Möglicherweise lehnen wir gerade an derselben Stelle, und wäre die Wand kurz weg, würde unsere warme Haut aneinanderklatschen, während ich schreibe und jemand anderes in seinem Pyjama dasitzt, sich die Eier kratzt und sein bevorzugtes Kellog’s-Produkt isst.
Ich versuche, jede Interaktion mit Nachbarn zu vermeiden. Das Nebeneinander soll ein Nebeneinander bleiben. Vor jedem Verlassen der Wohnung werfe ich einen vorausschauenden Blick durch das Guckloch. Als ich einmal betrunken meinen Schlüssel an der Wohnungstür stecken ließ und plötzlich eine alte, verwirrte Frau vor meinem Schlafzimmer stand und ihn mir geben wollte, verjagte ich sie panisch. Wenn es an meiner Wohnungstür klopft, mache ich vor allem eins: die Luft anhalten und in Angststarre warten, bis es aufhört. Normalerweise vermeide ich auch Bars in der Nähe meiner Wohnung. Aber vorgestern war ich in der Eckkneipe gegenüber verabredet. Eine betrunkene Frau torkelte zu unserem Tisch und hielt mir einen Vortrag darüber, wie man Wohnungstüren leise schließt. Ich hatte sie noch nie gesehen, aber offenbar wohnt sie neben mir und beobachtet mich manchmal durch den Türspion, um zu überprüfen, wer die Tür wieder so laut zumacht. Ich versuchte, sie mit beschwichtigenden Worten zu verscheuchen, während sie mir erklärte, wann ich um welche Uhrzeit heimkomme und wie laut die Tür knallt. Geh weg!
Nachbarschaftskontakt wird gern romantisiert. Wie selber Früchte und Gemüse einkochen oder anderer DIY-Schwachsinn. Fürchterliche Anstrengungen, die jeder arbeitende Mensch mit gesundem Menschenverstand aus gutem Grund vermeidet, werden von gelangweilten Start-up-Millionären nostalgisch verklärt. Und sie schwärmen von Zeiten, in denen man sich vom Nachbarn eine Tasse Mehl oder ein bisschen Milch ausborgen konnte. In denen „die Menschen noch miteinander gesprochen haben“. Es gibt jetzt sogar eine App, um diese nicht zufällig ausgestorbenen Belästigungen zu revitalisieren: „FragNebenan“. Für Menschen, die es mögen, wenn Fremde an ihrer Wohnungstür klopfen und neugierig die Einrichtung beäugen.
Nachbarschaft ist nichts Schönes und keine Bereicherung. Nachbarschaft sind Zwangsbekanntschaften mit Menschen, vor denen man sich schützen sollte. In repressiven Staatssystemen waren es oberflächlich nette Nachbarn, die einen denunzierten - trotz jahrelangen Milchausborgens. Nachbarn sind die Ersten, die dir für den eigenen Vorteil die Stasi auf den Hals hetzen. Nachbarn belästigen irgendwann deine Teenagertöchter. Nachbarn zetteln jahrelange Gerichtsverhandlungen wegen Gartenzäunen an. Nachbarn „waren doch immer so unauffällig“, bevor die gekochten Kinderbeine ans Tageslicht kommen, die sie in einem Schrank horten. Wenn harte Zeiten kommen, so rate ich jedem: Verbarrikadiert euch als Erstes vor den Leuten von nebenan!
Stefanie Sargnagel, 30, studierte Malerei bei Daniel Richter an der Akademie der bildenden Künste. Sie lebt als "Autorin, Cartoonistin und itgirl" (sie über sich) in Wien. Hier schreibt sie auf, was immer ihr zu unseren Hauptsachen einfällt. Zuletzt ist ihr Buch "Fitness" in der redelsteiner dahimène edition erschienen.