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Das sechste Spicegirl
Mit zwölf beschloss ich, ein Spicegirl zu werden. Ich hätte meinen rechten Arm dafür hergegeben, beide Arme sogar. Dabei handelte es nicht einmal um die britische Superband, sondern um die vier beliebtesten Mädchen meiner Klasse, die noch eine weitere suchten, um ihre Clique auf Spicegirls-Größe zu bringen. Die Posten von Gerry, Emma, Viktoria und Mel C waren schon vergeben. Aber Mel B – die dunkelhäutige „Scary Spice“ – wollte noch keiner sein.
Die Spicegirls hatten Federmäppchen mit ihrem jeweiligen Idol und sprachen sich untereinander nur mit ihren Spice-Namen an. Sie hatten Strähnchen im Haar, Bauchnabelpiercings und ordentlich eingetupperte Pausenbrote. Meine Familie war gerade frisch aus Russland nach Cottbus übergesiedet, mit vier Koffern und dürftigem Wortschatz. Ich trug einen Topfschnitt und eine Mumjeans – 15 Jahre bevor sie wieder angesagt war. Als Pausensnack packte mir meine Mutter Kohlrouladen in ausgespülte Eiscreme-Verpackungen.
Die Spicegirls übersahen meine Existenz, außer wenn ich mir mal wieder einen Fauxpas leistete: meine Schulsachen in einer Plastiktüte trug oder „das Musik“ sagte. Mir wurde klar: Wenn ich eine von ihnen sein will, muss ich mich anpassen.
Ich begann Listen mit Punkten zu schreiben, die an mir noch deutscher werden mussten. Diese Listen habe ich bis in die Oberstufe hinein geführt und danach aufbewahrt. Heute kann ich darüber nur schmunzeln, aber nicht nur: 2015 sind 1,1 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, viele von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Die Geschichte dieser jungen Menschen und meine sind zwei unterschiedliche paar Schuhe: Sie flohen vor einem Krieg. Meine Familie kam ohne existentielle Not hierher, weil Deutschland Russlanddeutsche eingeladen hatte, hier zu leben. Aber auch sie werden in den nächsten Jahren vor der Frage stehen, vor der ich damals stand: Wie kann ich dazugehören?
Meine eigenen Listen würde ich heute keinem mehr empfehlen. Damals hatte ich Punkte wie diese aber eisern befolgt:
„Mehr Müsli essen“: Dabei schien mir das deutsche Frühstück angemessener für Wellensittiche als für menschlichen Verzehr.
„'Wetten Dass...' gucken“: Ich verbrachte viele Abende damit, Deutschen dabei zuzugucken, wie sie Fliegen mit offenem Mund fingen oder sich Maiskörner in die Nase schoben. Dabei hätte ich lieber die russische Sendung „Wo? Was? Wann?“ geguckt, in der russische Superbrains knifflige Fragen beantworteten.
„Nicht das R rollen“: In einem seltsamen Glauben, dass Russischsprechen meinen Akzent verstärken würde, habe ich mich für ein paar Monate ausschließlich auf Deutsch verständigt. Seitdem hat es sich eingebürgert, dass ich mit meinen Schwestern nur Deutsch spreche.
Ich lernte kohlensäurehaltiges Wasser zu lieben und russischen Pop zu hassen, effizient zu sein und der-die-das zielsicher anzuwenden. Einmal hatte ich mich sogar erkundigt, wie aufwändig ein Namenswechsel wäre. Ich wollte einen möglichst durchschnittlichen deutschen Vor – und Nachnamen, aber meine Eltern erlaubten es mir nicht. Auch sie hätte ich am liebsten umgetauscht, mit ihren peinlichen Akzenten und glänzenden Lederjacken, und stattdessen viel lieber eine deutsche Elternstandardausgabe mit Reihenhaus und Funktionsklamotten gehabt.
Weil das nicht ging, versuchte ich auch meine Eltern einzudeutschen. Ich erklärte ihnen, warum man eine Haftpflichtversicherung braucht und die schrumpeligen Äpfel aus dem Bioladen besser waren als die schönen aus dem Supermarkt. Ich hielt meinen Eltern Vorträge über das Energiesparen, wie sie auch in der Broschüre der Verbraucherzentrale hätten stehen können.
Ich glaube, meine Eltern hätten bei mir gern etwas mehr Interesse an russischer Kultur gesehen. Aber ich beschloss, ausschließlich deutsche Freunde zu haben, und verbat mir russische Bücher und Fernsehprogramme.Ein Spicegirl wurde ich trotzdem nicht. Kurz vor den Sommerferien schnappte ich auf, wie „Emma“ zu „Gerry“ sagte, dass ich seltsam sei.
Aber ich arbeitete trotzdem mit verstärkter Kraft an meiner Eindeutschung. Vielleicht auch genau deshalb: weil ich dachte, ich sei nicht angepasst genug gewesen.
Später, als ich Abitur machte, wäre niemand mehr darauf gekommen, dass ich aus einem anderen Land stammte. Von meiner Herkunft war nicht viel übrig geblieben, außer dem Namen, den hohen Wangenknochen und dem russischen Pass.
Momentan wird wieder viel über die Integration gesprochen: Viele fürchten, dass Flüchtlinge schlecht Deutsch sprechen und nicht unsere Kultur und unsere Werte teilen. Es sind zum Teil verständliche Sorgen. Mein zwölfjähriges Ich hätten viele Anpassungs-Forderer von heute wahrscheinlich sehr gern gesehen: Das Mädchen, das bis ins kleinste Detail deutsch sein will, würde ihnen gefallen. Aber ich hoffe, dass die Menschen, die gerade nach Deutschland kommen, sich anders verhalten als ich damals: dass sie eine Balance zwischen Integration und Vollamputation ihrer Kultur finden.
Denn an der Uni tat mir das radikale Ausreißen meiner Wurzeln plötzlich leid: Ich sah, wie sich meine slawophilen Freunde in Unikursen mit russischen Deklinationen abmühten, um russische Klassiker im Original zu lesen. Auf Partys wurde ich in Gespräche über Tolstoj und russische Politik verwickelt, hatte aber von beidem keine Ahnung. Wenn ich meine Familie in St. Petersburg besuchen war, fühlte ich mich wie ein Alien. Mein Russisch war so eingerostet, dass ich kaum schreiben konnte. Es war, als hätte ich ein teures Geschenk – die russische Sprache und die Kultur, die ich umsonst bekommen hatte – beschämt vergraben. Und jetzt war es verrottet.
Unter den jungen Flüchtlingen werden viele dabei sein, die sich dafür schämen, anders zu sein –für ihre Akzente und ihre Eltern. Ich würde ihnen gern sagen: Löscht eure Ursprungskultur trotzdem nicht aus. Deutschland hat viel Gutes zu bieten: Eine reiche Sprache, kostenlose Bildung, Feminismus und wirklich tolle Tupperdosen. Aber nicht alles, was ihr von Zuhause mitgebracht habt, ist peinlicher Müll. Es kann Deutschland reicher machen. Auch wenn die Idioten, die Flüchtlingsheime anzünden, anderer Meinung sind.
Es dauerte lange, bis ich wieder lernte, in Kyrillisch zu schreiben, russische Freunde fand, und so viel von der Lage im Land verstand, dass ich wütend auf die russische Politik wurde (aber das ist eine andere Geschichte.) Heute ist mir klar: Sollte ich mal Kinder haben, ich werde ihnen russische Namen geben. Abends werde ich ihnen Struwwelpeter vorlesen, aber auch Märchen über Baba Jaga. Und wenn sie sich Sorgen machen, dass sie anders sind, spiele ich ihnen etwas von Spicegirls vor. Damals reichte mein Englisch nicht aus, um ihre Songtexte zu verstehen. Aber jetzt weiß ich, dass die Hauptmessage der Spicegirls war: „Du bist in Ordnung, so wie du bist.“