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Abschiebung am Flughafen
Ein Wetter ist das, da wird manch einer vor dem Abflug sagen: „Bin ich froh, dass ich vor dem deutschen Winter fliehen kann!“ Draußen auf dem Rollfeld schneidet einem an diesem Donnerstag im Februar der Wind in die Haut, er greift in die Rotoren des Flugzeugs und dreht sie. Das Gepäck fährt in den Flugzeugbauch, ein kleiner Ranzen öffnet sich, Buntstifte fallen heraus und Spielkarten wirbeln herum.
Auf dem Bus, der die Passagiere bringt, steht „Verbindung leben“. Eine Frau in bunten Leggings presst sich ihr Kind an die Brust und rennt die Treppe hinauf in den Flieger. Ein junger Mann hält einem Pressefotografen seinen Mittelfinger in die Kamera, der hinter ihm reckt entschuldigend den Daumen nach oben. Knapp hundert Menschen steigen in das Flugzeug. Es wird nach Skopje und Priština fliegen. Die Menschen wollen nicht aus dem deutschen Winter fliehen. Sie sind nach Deutschland geflohen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie haben einen Asylantrag gestellt, und er wurde abgelehnt, oder ihre Aufenthaltstitel sind abgelaufen. Darum werden sie heute vom Münchner Flughafen aus abgeschoben.
Im vergangenen Jahr gab es laut Bundesinnenministerium 20 888 Abschiebungen aus Deutschland, fast doppelt so viele wie 2014. Gut 4000 Menschen wurden aus Bayern abgeschoben, 2850 davon im Rahmen von 37 Sammelabschiebungen auf den Balkan, also in eigens dafür gecharterten Flugzeugen. Andere Länder, in die abgeschoben wurde, waren zum Beispiel Georgien, Afghanistan, Somalia, Vietnam oder Nigeria. Diese Zahlen und Fakten sind öffentlich. Die Menschen dahinter sieht man selten, denn Abschiebungen finden zwar einerseits an den großen Verkehrsflughäfen statt, direkt neben oder in unseren Urlaubsfliegern – andererseits soll die Öffentlichkeit aber möglichst wenig davon mitbekommen.
Der Flughafen ist eine Momentaufnahme der Weltgesellschaft: Privilegierte und Nicht-Privilegierte leben nebeneinander her
„Deutschland will sich als weltoffenes Land präsentieren, Abschiebungen passen dazu nicht“, sagt Miltiadis Oulios. Er ist der Autor des Buchs „Blackbox Abschiebung“ über Geschichte und Theorie der deutschen Migrationspolitik. Ein Ort, der in diesem Buch immer wieder auftaucht, ist der Flughafen. Zum einen, weil von dort abgeschoben wird. Zum anderen, weil man hier, auf der Fläche von ein paar Terminals und Rollfeldern, den Grund erkennen kann, warum es überhaupt Abschiebungen gibt: die Zweiteilung der Menschen in die, die Reisefreiheit genießen, und die, denen sie nicht zugestanden wird. Oulios nennt den Flughafen „eine Momentaufnahme der Weltgesellschaft“: Menschen aus allen Staaten sind hier versammelt, privilegierte und nicht privilegierte. Sie leben in diesem Mikrokosmos, genauso wie in der Welt da draußen, nebeneinander her. Die Oberklasse sitzt in Lounges und entspannt sich, der Durchschnittsreisende schlendert durch die Duty-free-Shops – und die, die abgeschoben werden, warten auf den Flug, den sie nicht antreten wollen. Für die einen ist der Flughafen ein Ort der Freiheit und des Aufbruchs. Für die anderen die Endstation.
Die Werbetafeln am Münchner Flughafen zeigen mal eine Palme, mal ein lachendes Kind, mal ein glückliches Paar. Sie versprechen bequemes Reisen oder in einer weltoffenen Stadt anzukommen. Die Ziele auf der Abflugtafel klingen verlockend: Kopenhagen, New York, Tokio, São Paulo, Moskau. Im Ankunftsbereich versteckt ein Mann einen Blumenstrauß hinter seinem Rücken, über einer Familie schwebt ein bunter Heliumluftballon, ein Hund wedelt aufgeregt mit dem Schwanz. Hier wartet Jahyeon, 25, aus Südkorea auf ihre Schwester, gemeinsam wollen sie durch Deutschland reisen. „Jahyeon, weißt du, dass hier und heute Menschen abgeschoben werden?“ Nein, davon hat sie nie gehört. Um die Ecke stehen vor einem Café Jessica, 27, und David, 29, sie sehen müde aus und ein bisschen genervt. „Wisst ihr von den Abschiebungen?“ – „Sie haben uns den Flug gecancelt, wir haben gerade andere Sorgen“, sagt David, aber ja, klar, „von wo sollen sie denn sonst abgeschoben werden?“. Caroline, 23, Studentin aus Innsbruck, fliegt in ein paar Stunden nach Südafrika. „Mir ist bewusst, wie privilegiert ich bin, dass ich reisen kann, wohin ich will“, sagt sie. Aber auch sie wusste nichts davon, dass hier neben dem normalen Flughafenbetrieb Menschen auf ihre Abschiebung warten.
In dieses Daneben führt eine Tür, durch die man nie einfach so gehen würde. Um sie zu finden, muss man wieder an Werbetafeln vorbei („In 2,5 Stunden könnten Sie an diesem Traumstrand sein!“), an Check-in-Schaltern, an Urlaubern und Geschäftsleuten, an Massagesesseln, in denen man sich vorm Boarding noch mal wohlig durchschütteln lassen kann. Schilder zeigen zu Terminal 1, Terminal 2, Gate H01–H38, Gepäckausgabe, Zollabfertigung. Aber auf diese Tür zeigt kein Schild, man biegt irgendwo rechts ab und verschwindet in der Wand. Kahle Flure, ein Aufzug, dann ist man bei der Bundespolizeidirektion am Flughafen München, Terminal 2, Bereich Rückführung. Blauer Linoleumboden, Büros mit Blick auf das Rollfeld. Rund 20 Mitarbeiter führen hier Abschiebungen durch. Im Gang hängt ein Foto der „Crew“, denn das heißt auch hier so: lächelnde Menschen auf einer Flugzeugtreppe.
Der Leiter des Bereichs, Harald Steiner, empfängt in seinem Büro und sagt: „Herzlich willkommen!“ Alles an Steiner ist korrekt, seine Igelfrisur, sein Schnurrbart und seine Sprache, nur die sehr großen, rauen Hände fallen etwas aus dem Rahmen. Seine korrekte Sprache geht so: „Die Rückführung ist die Vollstreckung des Abschiebeverfahrens.“ Oder so: „Wir führen unsere Aufgabe unter Beachtung aller menschenrechtlichen Vorgaben und mit Empathie durch.“
Bei der Bundespolizei ist alles vorbereitet für den routinierten Umgang mit einem Menschen, der das Land verlassen muss
Bei Sammelabschiebungen werden die Passagiere in einem Seitenterminal abgefertigt, bei einer Einzelmaßnahme, bei der der Betroffene bei einem Linienflug mitreist, passiert das in den Räumen der Bundespolizei. Ein paar Zimmer neben Steiners Büro sitzt ein Beamter an zwei Bildschirmen, vor ihm Fächer mit Akten zu den einzelnen Fällen. Es gibt eine Art Mini-Check-in-Schalter und eine Röntgenmaschine zum Durchleuchten des Gepäcks. Eine Tür führt in eine fensterlose Kammer, die mit Gummimatten ausgelegt ist, darin können Personen durchsucht werden. Zur Not müssen sie sich ausziehen, zur Not müsse man auch in die Körperöffnungen schauen, sagt Steiner – um auszuschließen, dass sie etwas dabeihaben, womit sie sich oder andere verletzen könnten. Eine weitere Tür führt in den Ruheraum: Bank, Pritsche, Tisch. Alles hier ist vorbereitet für den bürokratischen und routinierten Umgang mit einem Menschen, der das Land verlassen muss.
Die Polizei bringt diesen Menschen dann in den Flieger und zu seinem Platz. Erst danach kommen die anderen Passagiere. Der Abiturient auf dem Weg in den Urlaub und die Frau mit dem Geschäftstermin im Ausland sollen nicht wissen, dass der Sitznachbar nicht freiwillig fliegt. In bestimmten Fällen werden Abzuschiebende begleitet. In Steiners Sprache: „Für Rückzuführende, die eine Gefährdung der Sicherheit des Flugverkehrs darstellen können, haben wir Sicherheitsbegleiter.“ Die sogenannten Personenbegleiter Luft machen eine dreiwöchige Ausbildung und regelmäßig Fortbildungen. Sie trainieren interkulturelle Kommunikation und Teamfähigkeit, aber auch, wie man Zwang anwendet, wenn sich jemand gegen seine Abschiebung wehrt.
Die Begleiter sind in Zivil und sie tragen keine Waffen, auch sie wollen und sollen nicht auffallen. Aber sie können jemandem die Hände mit Klettbändern fesseln. Im Extremfall legen sie den „BodyCuff“ an, einen Gefangenengurt, mit dem die Hände am Körper fixiert werden. Die Bundespolizei betont immer wieder, dass das nur im Notfall passiert und dass sie sich an ihre Leitlinie hält: „Keine Abschiebung um jeden Preis.“ Wann der Preis zu hoch ist, eine Abschiebung also abgebrochen wird, muss im Einzelfall entschieden werden. „Wir werden aber nie so weit gehen, dass Leib oder Leben eines Beteiligten gefährdet wird“, sagt Steiner.
Vor allem der Fall von Aamir Ageeb hat dazu geführt, dass die Arbeit der Bundespolizei heute strengeren Richtlinien folgt. Ageeb war 1999 auf seinem Abschiebeflug in den Sudan erstickt. Er war an Händen und Füßen gefesselt und trug einen Motorradhelm auf dem Kopf, während des Starts wehrte er sich, und Polizeibeamte drückten seinen Oberkörper nach unten. Seitdem gibt es zum Beispiel an mehreren deutschen Flughäfen Abschiebebeobachter, die ein Monitoring für die Arbeit der Polizei machen und Ansprechpartner für die Betroffenen sind.
Das klingt erst mal gut, ändert aber nichts daran, dass Abschiebungen Zwangsmaßnahmen sind und die Betroffenen darunter leiden. Eine Abschiebebeobachterin vom Flughafen Düsseldorf erzählt von der Bandbreite der Reaktionen: Menschen, die ruhig sind, weil sie im Zielland noch eine Familie haben, weil sie nicht klagen wollen oder weil sie resigniert haben. Menschen, die wütend auf Deutschland schimpfen. Menschen, die aktiv Widerstand leisten oder drohen, sich etwas anzutun. Menschen, die zusammenbrechen, weinen, Angstzustände haben. Immer wieder werden psychisch kranke oder traumatisierte Menschen abgeschoben, immer wieder kehrt jemand in ein Land zurück, in dem er keine Perspektive hat oder in dem ihm Verfolgung und Gewalt drohen.
Auch ein Bundespolizist sieht dieses Leid. Aber er macht den Job freiwillig, und er hat dabei die Routine und den Rechtsstaat im Rücken. Harald Steiner sagt: „Wir halten uns bis zum Schluss offen für eine gerichtliche Entscheidung – wenn die kurz vor dem Abflug kommt, können wir auch dann noch abbrechen. Aber ansonsten werden wir alles daransetzen, unsere Maßnahme durchzuführen.“ Es stimmt schon: eine Abschiebung ist eine juristische Angelegenheit, ihr geht ein Verfahren der Ausländerbehörde voraus. Wer sie verhindern will, muss das also mit rechtlichen Mitteln tun: sich einen Anwalt nehmen, Widerspruch einlegen, eine Klage einreichen. Wenn das alles nichts bringt, versuchen Aktivisten manchmal, eine Abschiebung in letzter Minute am Flughafen zu stoppen.
Auf den Plakaten der Anti-Abschiebungs-Aktivisten steht „Unsere Münchner Freiheit: Nonstop zu Abschiebezielen weltweit“
Ein paar Tage nach der Sammelabschiebung soll Z., ein Mann aus Afghanistan, von München aus abgeschoben werden. Etwa zehn Aktivisten verteilen vor dem Abflug Flyer an die Passagiere. Darauf steht, dass die Abschiebung gegen Z.s Willen erfolge und eine Rückkehr für ihn lebensgefährlich sei. Dazu ein Leitfaden, wie die Passagiere selbst aktiv werden können: sich bei der Fluggesellschaft beschweren, den Piloten ansprechen, sich im Flieger nicht hinsetzen, damit er nicht starten kann. Die Bundespolizei stoppt zwar die Flyer-Aktion, aber die Gruppe meldet spontan eine Kundgebung an und demonstriert vor dem Check-in. Dann teilt ein Sicherheitsbeamter der Airline mit, dass Z. nicht mitgenommen wird. „Ob das an unserer Aktion lag, wissen wir nicht“, sagt Christian Oppl, 27, einer der Aktivisten. Vielleicht hat sich Z. auch zu stark gewehrt, vielleicht gab es medizinische Bedenken. Dass die Passagiere die Abschiebung verhindert haben, ist unwahrscheinlich, weil das Boarding zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden hat.
Christian weiß nicht, wie es für Z. weitergeht, nur, dass er derzeit in Abschiebehaft sitzt. Er hat aber eine Bleibeperspektive, weil eine Hochzeit geplant ist – diese Perspektive und Z.s Einverständnis waren die Voraussetzung für die ganze Aktion. Weil Christian Abschiebungen aber nicht nur im Einzelfall, sondern grundsätzlich verhindern will, ist er bei „Karawane München“ aktiv, einer Gruppe, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzt. Dazu gehören auch Demos am Flughafen. Auf den Plakaten steht dann zum Beispiel: „Unsere Münchner Freiheit: Nonstop zu Abschiebezielen weltweit“. Ein Slogan, der den Flughafen als „Tatort“ brandmarkt, an dem sich das Ganze verdichtet, an dem im Abstand von wenigen hundert Metern Freiheit ausgelebt und Menschen ihre Freiheit genommen wird. Der Slogan ist auch ein bewusstes Spiel mit der Sprache, die der Flughafen, neben all seiner Check-in- und Sicherheitskontrollen-Bürokratie, ja vor allem spricht: die Sprache der Globalität, der Grenzenlosigkeit.
Hinter dieser Sprache steckt die Idee des „Global Citizenship“, dem Weltbürgertum. Autor Miltiadis Oulios wünscht sich, dass diese Utopie endlich für alle zur Realität wird: „Man muss Voraussetzungen schaffen, dass Menschen legal kommen und gehen können.“ Das heißt: Man muss auch am anderen Ende kämpfen, denn der Kampf für offene Grenzen und Reisefreiheit ist letztlich ein Kampf gegen Abschiebungen, die ja der Schlusspunkt einer gescheiterten Migration sind. Als Bestätigung seiner These sieht Oulios die Tatsache, dass neuerdings zum Beispiel Flüchtlinge aus dem Irak Deutschland wieder verlassen wollen, wenn sie hier nicht Fuß fassen. Mit legalen Migrationsmöglichkeiten müssten solche Menschen nicht die lebensgefährlichen oder zumindest teuren Fluchtrouten auf sich nehmen. Sie hätten einfach die Chance, sich frei auszusuchen, wo sie leben wollen – und eben auch wieder zu gehen, wenn es ihnen dort nicht gefällt. „Diesen Menschen könnte man sehr viel Leid ersparen“, sagt Oulios.
Leid wie das der Menschen, die im Flugzeug auf den Start Richtung Skopje und Priština warten. Auf der einen Seite fährt der Bus zum Flieger nach Stuttgart vorbei, auf der anderen rollt ein Flieger der Iberia Richtung Startbahn. Dazwischen eilt Harald Steiner in Anzug und Warnweste und mit einer Kladde unterm Arm durch den Schneeregen, ins Flugzeug und wieder raus, spricht mit dem Piloten, telefoniert. Heute läuft alles ruhig ab. Die meisten Menschen, hat Steiner im Büro gesagt, seien ja „kooperative ausländische Staatsangehörige“. Ein Kind schaut aus dem Fenster und lächelt. Der Abflug verzögert sich, weil sich die Treppe und die Flugzeugtür verkeilt haben, ein Polizist lacht und zuckt mit den Schultern. Der Wind schneidet einem in die Haut. Auch morgen wird hier wieder jemand vor dem deutschen Winter fliehen. Und auch morgen wird irgendwo daneben wieder jemand irgendwohin fliegen, wo er gar nicht sein will.
Die letzten Stunden in Deutschland verbringen sie in einer Parallelwelt neben Palmenbildern.
Die einen gehen mit dem Urlaubsgepäck an Bord, die anderen mit ihrer ganzen Habe.