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Hallo Herbst. Ich mag dich.
1. Nicht teilen müssen Der Sommer hat einen ganz entscheidenden Nachteil: Weil ja immer so schönes, zu schönen Dingen einladendes Wetter ist, gehen einfach alle Leute gleichzeitig allen schönen Dinge nach, weshalb sie plötzlich gar nicht mehr schön sind. Das Seesonnenbad, das eigentlich entspannen, erfrischen und Spaß machen soll, wird zum Kampf um Park-, Liege- und Frisbeespielplätze. Die Halbstarkentruppe mit Dosenbier, Bong und 50 Cent-Ghettoblaster (nicht Kaufpreis, sondern aus potenten Boxen fluchender Interpret) fand es nämlich genauso fett, heut am See zu chillen, wie die mit scheinbar nie versiegen wollendem Stinke-Grillwerk ausgestatteten Großfamilien. Will man eine Radtour machen, muss man vorher noch mal die Verkehrsregeln durchpauken, weil das teure Leben sonst auf einer Forstwegkreuzung nach Kollision mit anderen „Bikern“ ein jähes Ende finden könnte. Will man wandern, muss man alle zehn Minuten Überholmanöver ansetzen oder entgegenkommende vorbeilassen, das Gipfelbuch bekommt an einem Tag mehr Einträge als die meisten Bürgerbegehren.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Warnemünde. Schön, was? Im Herbst aber – zumindest in seiner Anfangszeit – hat man all diese Freuden für sich alleine. Noch immer gibt es Tage, an denen man in Badehose am See liegen kann, vom Wandern, Fahrradfahren und sonstigen Außentüraktivitäten ganz zu schweigen. Aber es ist vor allem morgens, wenn die Entscheidung über das zu verrichtende Tagwerk getroffen werden muss, ein paar Grad kälter, und plötzlich fühlen sich all die Sommerleute vom eigentlich immer noch schönen und einladenden Wetter gar nicht mehr eingeladen. Also: Alles Deins! 2. Kuscheln, nicht schwitzen Ganz großartig ist auch die Tatsache, dass sich nicht bei jeder kleinen Anstrengung, beim Sitzen im Auto oder sogar beim Einfach-nur-im-Schatten-liegen alle Poren gleich freudestrahlend dazu angehalten fühlen, sich zu öffnen und ihr Inneres nach außen zu kehren. Nervt nämlich und riecht auch nicht immer gut. Besonders unangenehm sind diese hyperaktiven Poren, wenn die Anziehungskraft des neben einem im Bett liegenden Partners zwar groß ist, jeder zwecks Ankuscheln unternommene Hautkontakt aber nach spätestens fünf Minuten zur klebrigen Unannehmlichkeit wird. Bei herbstlichen Temperaturen erleben Bettdecke und Partnerhaut aber wieder ein Nachfragehoch, das sich auch nach besagten fünf Minuten nicht durch Klebrigkeit als Bluff entpuppt, sondern lediglich durch wonnige Wärme bestätigt wird. 3. Kälte genießen Überhaupt ist es mir ein Rätsel, warum in Herbstgesprächen immer mit leidig-verfrorenem Geschau und hochgezogenen Schultern darüber gewehklagt wird, dass es „jetzt ja schon wieder sooo kalt“ sei. Ich mag es, morgens aus dem Haus zu gehen und von einem kalten Kitzeln im Gesicht endgültig ins Reich der Lebenden geschubst zu werden. Oder im Büro die Fenster aufzureißen und nach wenigen Minuten tatsächlich eine belebende Wirkung zu verspüren. Oder aus dem rauchigen Club auf die Straße zu treten und durch die Nebelschwaden des eigenen Atems in die Straßenlaterne zu blinzeln. Außerdem kann man im Herbst: Dreckspatz spielen, Hormone abkühlen lassen und Selbstmitleid überlisten. Genaueres auf der nächsten Seite...
4. Den Hormonspiegel zur Ruhe kommen lassen Endlich ist sie vorbei die Zeit, in der man unaufhörlich von all diesen leicht bekleideten Schönheiten durcheinandergebracht wird. Schön sind sie natürlich immer noch, die Schönheiten. Da kann selbst der Herbst nichts daran ändern, außer vielleicht ein bisschen Knusperbräune zu überweißeln. Aber – so simpel es ist, so wahr ist es auch – sekundäre Geschlechtsmerkmale kommen nun mal in einem langen Mantel weniger zur Geltung als in einem kurzen Rock, respektive engem T-Shirt. Deshalb kann man nun endlich ohne ständige Unterbrechungen der Konzentration in Bibliotheken, Hörsälen, Klassen- und Seminarräumen sitzen und durch die Stadt laufen, ohne sich ständig umdrehen zu wollen. 5. Dreckig werden Der Herbst bringt eine Sache vermehrt mit sich, der ihren niederer Status völlig zu Unrecht anhängt: Dreck. Im Allgemeinen wird er gemieden und verabscheut, den meisten taugt er zur abschätzigen Beschreibung eines Gegenstandes oder Kulturprodukts. Dabei machen, wenn man ehrlich ist, viele Dinge im Dreck viel mehr Spaß. Zumindest wenn man das Dreckigwerden nicht länger diskriminiert sondern mit der nötigen Toleranz akzeptiert. Dann nämlich wird man alsbald eine Hemmschwelle überschreiten und eine wahre Freude daran haben, durch Matsch zu stampfen, in Pfützen zu springen oder Rasensportarten wie zum Beispiel Fußball mit soviel Bodennahkampf wie möglich zu begehen. Hat ein bisschen was von Das-Kind-in-sich-wiederentdecken. Und das ist eigentlich nie falsch.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Matschfußball. Herrlich! 6. Sich mit Heißem trösten Nun muss man aber nicht die ganze Zeit in Dreck und Kälte sein Glück suchen. Ich gebe zu, manchmal ist einem einfach nicht danach. Dann hilft eine List: Einfach in schweres herbstliches Selbstmitleid verfallen. Tut man sich selbst genügend leid, weil man bei so viel klammer Kälte im Bushäuschen warten muss, scheint es schnell gerechtfertigt, im Café gegenüber bei einer heißen Schokolade zu warten, die man sich sonst nie gönnen würde. Oder bei einer Tüte heißer Maroni, die man im Herbst an kleinen Ständen städtischer Fußgängerzonen kaufen kann. Oder bei einer Tasse Glühwein. Aufzählung beliebig fortzusetzen… 7. Teesorten testen Ist billiger als Weinkenner werden, eignet sich im Herbst sehr schön als häusliche Nebenher-Freizeitbeschäftigung und erweitert eben genannte Trösttaktik um eine Variante. Die Sortenvielfalt der Teepflanze scheint fast so unendlich wie die Anzahl an Promenadenmischungen in Entwicklungsländern voller Straßenköter. Grüner, schwarzer, Früchte-, Darjeeling, Assam, Earl Grey, Chai, Mate und so weiter und so fort. Der Spaß, den esoterische Besitzer von Teeläden daran haben, ihre Ware zu parfümieren, lässt das Sortiment weiter wachsen. Was der Herbst noch kann? Naturgewalten, Gewissensbisse beseitigen und Vorfreude schaffen...
8. Björk hören Kann ich sonst irgendwie nicht. Nur im Herbst. Schade, ist aber so.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
9. Couchsonntage ohne schlechtes Gewissen Natürlich kann man nicht einen ganzen Herbst lang draußen sein und Naturgewalten auf sich wirken lassen. Das Schöne am Herbst ist aber, dass man das auch gar nicht muss. Er befreit von Tatendrang und rechtfertigt gesellschaftlich verpöntes Faulenzen. Er ermöglicht es einem, tagelang auf der Couch oder zwischen den Kissen zu lümmeln, zu lesen, zu glotzen und/oder Musik zu hören. Ohne schlechtes Gewissen, dass man „bei diesem tollen Wetter – Kopfschüttel, ts ts ts – vor der Glotze sitzt“. Und ohne letzten Endes doch widerwillig ins Freie getrieben zu werden wie an einem Sommertag. 10. Naturgewalten spüren Ich bin ja ein echter Fan von Mutter Erde. Nicht so in der Reggae-„Du hast uns das Leben geschenkt und ernährst uns gut und gibst uns was zu rauchen Art, sondern als Bestauner und Bewunderer von Naturgewalten. Ich lasse mir die Kraft und Stärke der Elemente gerne um die Ohren schlagen und vor Augen führen, egal ob in Form eines reißenden Flusses, eines zu Wellenbergen aufgetürmten und schäumenden Ozeans oder eines Bäume zum Biegen und Brechen bringenden Sturms. Alles Sachen, die der gute Herbst mit sich bringt.
„Meist schweißt es die Partner eher zusammen, wenn sie gemeinsam die Depression überstehen”, sagt Dr. Gabriele Pitschel-Walz.
Naja, ganz so arg muss es dann doch nicht sein. 11. Sich auf den ersten Schnee freuen Der Herbst ist ja in nicht unbeträchtlichem Maße ein Vorbote. Ein Vorbote des Winters. Den ich persönlich auch sehr mag. Wenn es ein richtiger ist, nicht so ein lätscherter verkappter ohne Schneemassen und Eiseskälte. Je weiter fortgeschritten das Stadium des Herbstes, desto deutlicher und häufiger werden die winterlichen Botschaften, die Herold Herbst verkündet: Eisiger Wind, schneeschwangere, oder zumindest danach aussehende Wolken, gefrorener Tau und Bodenfrost. Kommen dann die ersten Flocken vom Himmel gefallen, kann man sich freuen. Denn – und auch das mag ich am Herbst – dann weiß man, dass er jetzt wieder weg ist, und der Winter da. Das ist mir wesentlich lieber als zum Beispiel dieser unentschlossene April-Quatsch. Fotos: dpa, Reuters