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Kapitalismuskritik in der Mode: Wer seine Kleidung selbst macht, versteht, warum diese Industrie so kaputt ist
Wenn man anfängt, seine Klamotten selbst zu nähen und zu stricken, ergeben sich automatisch einige Erkenntnisse.
Sehr, sehr schnell findet man heraus: Kleidung selbst herstellen ist sehr viel teurer, als Klamotten im Geschäft zu kaufen. Schnittmuster, Stoffe, Garne, Nähmaschinen, Zubehör - all das kostet mehr, als sich in irgendeiner Kette in der Fußgängerzone von Kopf bis Fuß neu einzukleiden. Und da ist noch nicht mal meine Arbeitszeit mit eingerechnet.
Warum kostet es mehr, ein Hemd selbst zu nähen als ein halbes Dutzend zu kaufen?
Daraus ergibt sich die Frage: Warum ist das so? Klar, mein Stoffeinkauf ist mit dem einer Multi-Milliarden-Kette nicht vergleichbar. Und wenn ich mich an die Nähmaschine setze, dann ist das nicht logistisch durchorganisiert wie in einer riesigen Fabrik. Dennoch: jede Naht in jedem Kleidungsstück wird von Hand genäht, egal ob bei mir zuhause oder in in einer Textilfabrik in Bangladesh. Wenn man sich mal ganz kurz überlegt, wie ein Hemd zehn Euro kosten kann, das aus mehr als 20 verschiedenen Einzelteilen besteht und dementsprechend aufwändig produziert werden musste, erkennt man sehr schnell: das geht nur auf Kosten von anderen.
Ungefähr 90 Prozent der in Deutschland gekauften Kleidungsstücke stammen aus dem Ausland, oft werden sie in Billiglohnländern hergestellt, in denen wenig bis gar keine Rücksicht auf Umweltstandards, den Arbeiterschutz oder menschenwürdige Bezahlung gelegt wird.
Gekaufte Klamotten sind oft erbärmlich schlecht verarbeitet
Eine weitere Erkenntnis, die sich aus dem Selbermachen ergibt: Gekaufte Klamotten sind bisweilen erbärmlich schlecht verarbeitet - vor allem die Ware aus Fast-Fashion-Läden wie Zara, H&M oder Mango. Da fallen die Klamotten schon mal während der ersten Wäsche auseinander. Wenn man selbst näht, weiß man, wie eine gute Naht auszusehen hat und fängt irgendwann an, sich über verschnittene Shirts, schlampige Nähte oder Knöpfe, die nach einmal ins-Knopfloch-stecken abreißen, wirklich zu ärgern. Denn diese Produktionsfehler wären komplett vermeidbar, wenn bei der Produktion auf die Verarbeitung genauso geschaut würde wie auf die Gewinnmaximierung. Und wenn es nicht Absicht wäre - denn für Produzenten, die bei einer sehr geringen Gewinnmarge jährlich hunderte Millionen Kleider raushauen, lohnt sich dies nur, wenn sie möglichst viel umsetzen.
Fast-Fashion-Ketten kennen auch keine Herbst-, Winter- oder Sommer-Kollektion mehr. Diese Läden hauen bis zu zweimal wöchentlich neue Kollektionen raus. Die müssen natürlich verkauft werden, weshalb der Wunsch in den Kunden geweckt werden muss, sich ständig neu einzukleiden. Niemand „braucht“ heute in Deutschland noch neue Klamotten.
Selbermachen braucht Zeit - viel Zeit
Wenn ich mir dagegen selbst ein Kleidungsstück nähe, dann ist das eine längerfristige Angelegenheit mit hohem Verpflichtungs-Faktor: Einen Pullover zu stricken kann schon mal ein paar Wochen, bei akuter Hitze oder Faulheit auch Monate dauern. Weil das eine sehr lange Zeit ist, denke ich vorher ausführlich darüber nach, wofür es sich lohnen könnte, dermaßen viel Zeit und Energie zu investieren. Ich recherchiere Anleitungen, Wolle, lese mir auf Ravelry (eine Art Facebook für Handarbeiter) Erfahrungsberichte von anderen Menschen mit diesem Strickmuster durch und überlege, was mir steht und was nicht. Kein Mensch will vier Wochen an einem Pulli stricken, nur um dann festzustellen, dass er zu klein ist oder einfach nur beknackt aussieht.
Seitdem ich so intensiv über meine Kleidung nachdenke, habe ich fast komplett aufgehört, mir im Laden neue zu kaufen. Es sei denn, ich muss ein irreparabel kaputtes Kleidungsstück ersetzen, kann es nicht selbst machen oder benötige es dringend. Dann aber versuche ich Kleidung zu kaufen, die gut verarbeitet und möglichst fair hergestellt wurde. Das ist teuer, aber ich kann mir das leisten, weil ich sehr viel weniger einkaufe als früher. Wenn man statt zehn Hosen nur eine kauft, dann kann die in der Theorie auch zehnmal so teuer sein. Wenn sie besser verarbeitet ist und dementsprechend länger hält, sogar noch mehr.
Endlich Ärmel, in die meine Affenarme ganz reinpassen
Das Lustige daran ist: Ich fühle mich in keinster Weise schlecht, weil ich mich beschränke - im Gegenteil. Ich kann endlich genau die Kleidung tragen, die mir gefällt - und nicht das, was im Laden hing und einigermaßen gepasst hat. Ich kann Pullover stricken, deren Ärmel meine langen Affenarme bis zum Handgelenk bedecken. Ich fühle mich nicht länger schlecht, weil mir irgendwelche Konfektionsgrößen nicht (mehr) passen. Ist mir doch komplett wurst, was die Modeindustrie von meinem wenig normgerechten Körper hält.
Es widert mich mittlerweile regelrecht an, in Bekleidungsketten zu gehen, wo es nach Chemie stinkt und man angesichts der Massen an Klamotten Beklemmungen bekommt. Deutsche Frauen besitzen laut Greenpeace im Durchschnitt (!) 118 Klamotten, Männer 73 Teile - und da sind Unterwäsche und Socken noch nicht eingerechnet. Kein Mensch kann so viele Klamotten tragen - und so landen 20 Prozent der Klamotten nahezu ungetragen wieder im Müll. Dass man ein kleines Loch in seinem Hemd stopfen, eine zu lange Jeans kürzen oder einen Knopf neu annähen kann, scheint auch komplett aus dem Bewusstsein der Menschen gelöscht zu sein.
Ich weiß nicht, wie es anderen Menschen geht, aber ich finde unseren Umgang mit Kleidung zutiefst verstörend. Und ausgerechnet bei diesem Thema ist der Kunde tatsächlich die wichtigste moralische Instanz. Nur, wenn wir aufhören wie die Bekloppten Kleidung zu shoppen, nur, wenn wir anfangen, uns für die Produktionsbedingungen unserer Klamotten zu interessieren, nur, wenn wir einsehen, dass Billigware immer auf Kosten anderer in unsere Läden kommt, dann wird sich etwas ändern.
Hört auf Vivienne Westwood
Ein Anfang könnte es sein, einmal selbst ein Oberteil zu nähen oder sich ein paar Socken zu stricken, eine alte, ungeliebte Jeans aufzutrennen und daraus etwas Neues zu machen. Denn das Tollste daran, seine Kleidung selbst herzustellen, hab ich noch gar nicht erwähnt: Es macht unglaublich viel Spaß, es ist kreativ - und man ist unfassbar stolz, wenn man das erste Mal ein Kleidungsstück ganz selbst hergestellt hat, das nicht so aussieht, als wäre es von einer Kindergartengruppe gebastelt worden! Das braucht Zeit, Ehrgeiz, ein gewisses Talent und Ressourcen. Aber es lohnt sich. Wirklich!
Wem das zu viel Arbeit ist - und ich kann jeden verstehen, bei dem das so ist - der könnte das Motto von Vivienne Westwood beherzigen, das sie in einer Rede über Kapitalismus und Mode ausgegeben hat - und die meines Erachtens für das ganze Leben anwendbar ist:
"Buy Less, Choose Well, Make It Last"
Dieser Text wurde zum ersten Mal am 19.8.2017 veröffentlicht und am 20.6.2020 noch einmal aktualisiert.