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Warum Sehnsucht ein tolles Gefühl ist
Es gibt im grandios unterschätzten Roman "The Beach“ von Alex Garland eine Szene voller Sehnsucht. Sie lehrt uns alles, was wir über den Umgang mit diesem bittersüßen Gefühl wissen müssen. Wann sie hilft. Wann sie nur schmerzt. Und wie man die beiden Arten unterscheiden kann.
In einer sternenklaren Nacht sitzt der Erzähler, ein junger Engländer namens Richard, mit der schönen, mutigen Französin auf einer verlassenen Insel. Ihr Freund Etienne schläft neben ihnen. Die drei sind auf der Suche nach dem Strand. Françoise und Richard sind sich dabei nähergekommen, und jetzt erzählt Richard ihr von der Theorie, dass es in unzähligen Paralleluniversen, irgendwo da oben in den Sternen, unzählige Welten gibt. Darunter eine fast genauso wie diese hier, wo sie beide nebeneinander im Sand liegen, und in der nur ein kleines Detail anders ist. „Erzähl mir von ein paar anderen Welten“, flüstert Françoise.
Dann küsst Richard sie. „Sie wich zurück“, heißt es im Buch. „Oder lachte oder schüttelte den Kopf oder schloss die Augen und küsste mich wieder“. 1001 mögliche Zukünfte. Wir werden sie nie erfahren. Denn in diesem Universum traut sich Richard nicht. Sie schläft ein, er bleibt wach und allein mit seiner Sehnsucht, mit dem Was Wäre Wenn.
Jeder von uns kennt dieses Gefühl. Ein brutales Ziehen in der Brust, das mich regelmäßig umhaut. Sei es Sehnsucht, Fernweh, FOMO (The Fear Of Missing Out) – die Frage bleibt gleich: Was wäre wenn? Der Emotion gewordene Konjunktiv: Hätte ich doch nur. Hätte ich doch bloß nicht. Ich bin hier. Nicht dort. Sie ist dort, nicht hier. Etwas fehlt so sehr.
Dafür braucht es keine großen Schicksalsschläge, keine einzigartigen Ereignisse. Auch im Alltag lauert ständig die Frage, was sein könnte, wenn ich irgendetwas anders gemacht hätte. Das Bier nicht mehr getrunken. Die Nummer wenigstens einmal angerufen. Nicht dorthin gefahren, nicht mit demjenigen gesprochen. Ein kleines bisschen mehr an eine Beziehung geglaubt hätte. So befühlen wir alternative Realitäten, Vergangenheits- und Zukunftsszenarien. Sie flüstern uns zu: Wärst du dann glücklicher? Verliebter? Jemand ganz anderes?
Sehnsucht ist wie Hunger. Wenn sie nicht immer wieder auftaucht, stimmt etwas nicht
Das unterscheidet uns von den Tieren: Wir können uns vorstellen, was nicht real ist. Und können diesen Paralleluniversen nachspüren. Das Gefühl der Diskrepanz zwischen Fantasie und Wirklichkeit, die Angst vor diesem unüberwindbaren Graben, der das hier und das dort trennt, nennt man Sehnsucht. So lange ich atme, wird sie da sein.
Gut so. Total buddhistisch zufrieden gibt es eh nicht. Sobald man hat, was man wollte, sehnt man sich nach mehr – oder anderem. Verlockungen gehören zum Leben wie Hunger. Wenn sie nicht immer wieder auftauchen, stimmt etwas nicht. Wer nicht mehr zweifelt, verendet bräsig auf der Couch, als Sklave seiner Entscheidungen. Wer gar nicht mehr sehnt, ist tot. Um aber nicht immer wieder sinnlos zu leiden, muss man lernen, damit umzugehen. Nur wie?
Nimm deine Sehnsucht
sperr sie ein und bind sie fest
Du musst sie regelmäßig füttern
Doch bleib nicht zu lang mit ihr allein
Die lullt dich ein und gibt dir liebend gern den Rest
singt Gisbert zu Knyphausen in „Verschwende deine Zeit“.
Recht hat er. Aber ich gehe weiter: Nimm deine Sehnsucht und spanne sie vor deinen Karren! Es gibt keinen stärkeren Antrieb. Das Gras ist mal wieder auf der anderen Seite grüner? Mein Partner mir lieb, aber andere so viel schöner, schlauer, besser? Hätte mich das andere Studium viel glücklicher gemacht? Oder wenigstens in eine andere, glücklicher machende Stadt geführt? Nach Porto oder Paris?
Und was wäre dort wohl alles passiert? Wen hätte ich kennen gelernt? Ganz andere Freunde gefunden? Die große Liebe? Oder in einer Nacht am Tresen die Erkenntnis gehabt, dass ich alles ändern muss? Und dann den Mut, alles anders zu machen? Auszuwandern? Wohin? Was zum Teufel habe ich Idiot nur alles verpasst?
Wenn ich auswandern will, kann ich auswandern. Jetzt
Nachts, wenn ich wachliege, treiben mich diese Fragen um. Aber sie treiben mich auch an. Ich glaube: Man muss die FOMO dressieren. Sich von ihr nicht quälen, sondern ziehen lassen. Vielleicht ins größte Abenteuer hinein, bis zu einem geheimen Strand wie in „The Beach“. Aber wenn man sich eben nicht traut, ist es nicht schlimm. Mit der Sehnsucht hat man wenigsten ein fernes Echo von allem, was hätte sein können. Besser als nichts.
Und die beste Motivation, es nächstes Mal anders zu machen. Weil es ein nächstes Mal gibt. Weil fast keine Zukunft unwiederbringlich verloren ist. Wenn ich wirklich wissen will, was geschieht, wenn ich auswandere, kann ich auswandern. Jetzt. Wohin ich will. Und die 10000 Kilometer bis dorthin, die zieht mich die Sehnsucht. Die allerwenigsten Entscheidungen sind wirklich ultimativ.
Doch selbst an dem Strand küsst Richard Françoise nie. Viel später, als das Paradies längst verloren ist, die Freunde voneinander entfremdet, sagt Françoise zu ihm vorwurfsvoll: „Du liebst mich gar nicht mehr, Richard.“ Als würde auch sie darüber nachdenken, was hätte sein können. Als hätte sie sich all diese Welten vorgestellt, in denen er oder sie sich traute. Als würde sie bereuen, etwas verpasst zu haben.
Meine Damen und Herren, bei allem Optimismus kommt hier die bittere Wahrheit: Manche Sehnsucht zieht einen nirgendwohin. Manchmal hat man etwas Wichtiges, Einzigartiges versäumt. Dann hilft keine Dressur. Dann muss man leiden. Für Richard heißt das: Hätte er sie doch nur geküsst, in dieser Welt. In allen anderen Welten sehnt er sich nach ihr. Zurecht.
Dieser Text wurde am 24. Oktober 2017 veröffentlicht und am 8. Juli 2020 noch einmal aktualisiert.