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Wie man am besten mit Erbe umgeht

Nicht alles, was man erbt, kann man auch brauchen.
Foto: Axel Bückert / Photocase

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„Gläser“ standen ganz oben auf der Liste, die Sarah geschrieben hatte, bevor sie zum Haus ihrer Großeltern gefahren war. Ihre Oma war bereits tot, ihr Opa gerade in ein Pflegeheim gezogen. Sie stellte einen Umzugskarton in der Mitte des Wohnzimmers ab, ging in die Küche und öffnete die Hängeschränke. Das war vor acht Jahren. Sarah war damals Studentin und gründete gerade zusammen mit einer Freundin eine WG. Einen eigenen Hausstand hatte sie nicht. Also ist sie zu diesem Haus gefahren, um „sich da raus zu holen“, was sie brauchte. Besteck, Tassen, Teller. Und Gläser natürlich. So erzählt sie das heute und schiebt hinterher: „Fühlt sich irgendwie falsch an, wenn man das so sagt.“ Es sei  dann auch komisch gewesen, die vollen Kartons aus dem Haus zu tragen. „Die Dinge hatten einen Platz, waren fester Teil eines Lebens, und ich habe sie einfach mitgenommen, an einen neuen Ort, in ein anderes Leben.“  

Pragmatismus und Unbehagen: Da sind ein Mensch und seine Dinge, gemeinsam ergeben sie eine Identität. Und dann ist dieser Mensch nicht mehr da. Die Dinge sind übrig. Man könnte annehmen, sie würden im Moment des Todes zu leblosem Material werden. Aber das tun sie nicht. Jedenfalls nicht für die Hinterbliebenen. Es sind eben nicht nur Dinge, die übrig bleiben. Es ist Erbe. Und Erbe ist immer von einem besonderen Nimbus umgeben.

„Das nächste Jahrzehnt wird die Dekade der Erben werden“, schreibt die Publizistin Julia Friedrichs in ihrem Buch „Wir erben. Was Geld mit Menschen macht“. 250 Milliarden Euro werden jährlich in Deutschland vererbt. Was viele Erben mit dem Geld ihrer Familien machen, kann man im Moment auf dem Wohnungsmarkt deutscher Großstädte beobachten. Aber wo viel Geld ist, ist auch viel Besitz. Wie geht diese Erbengeneration mit den Dingen um, die ihnen hinterlassen werden und keinen direkten Vermögenswert darstellen?

Aber wie wählen wir aus, was wir behalten und benutzen?

Dr. Ulrike Langbein, Kulturanthropologin an der Universität Basel, erzählt von der Frau eines Pfarrers, aus deren Sicht ihre Enkelkinder nur des Erbes würdig sind, wenn sie es weiter benutzen: Vom Weißzeug muss weiter getafelt werden, mit dem Silberbesteck muss weiter gegessen werden – obwohl es nicht spülmaschinenfest ist. Sie erzählt von einem Sohn, der die Uhr seines Vaters verkauft und sich vom Erlös eine neue gekauft hat – um sich an seinen Vater zu erinnern, aber mittels einer Uhr, die dieser Vater nie getragen hat. Und sie erzählt von einer Familie, die eine Art Herrgottswinkel für die Großmutter in der Wohnung aufgestellt hat. Ein Schrein mit Fotos und Krückstock.

Langbein hat diese Menschen und noch viele andere als Teil der Feldforschung zu ihrer Dissertation „Geerbte Dinge. Soziale Praxis und symbolische Bedeutung des Erbens“ getroffen. Im Gespräch mit ihr wird schnell klar: Der Umgang mit geerbten Dingen ist so vielfältig wie die Erbfälle selbst. In ihrer Arbeit legt sie sich auf drei Muster im Umgang mit Erbe fest: „Bewahrung durch Benutzung. Bewahrung durch Modifikation. Bewahrung durch Heiligung.“ Dabei weisen die geerbten Dinge in ihrer Bedeutung immer über ihre Funktionalität hinaus. Und sie sind polysemisch; das heißt, genauso wie Pferd eine Bezeichnung für ein Tier, ein Turngerät oder eine Schachfigur ist, kann ein geerbter Füller auf die unterschiedlichsten Arten mit Bedeutung aufgeladen sein. Immer abhängig davon, welche soziale Interaktion er repräsentiert. Man kann einen Füller als Statussymbol verehren. Oder als Zeichen einer bürgerlichen Erfolgsbiografie verachten, zu der einen die Eltern immer gedrängt haben, die man selbst aber nicht wollte.

Aber wie wählen wir aus, was wir behalten und benutzen? Küchenmesser oder Pfeffermühle? Was ist Müll, was Erbe?

 Langbein sagt: „Hinterlassene Hausstände werden benutzt wie ein Selbstbaukasten. Ich nehme mir raus, was zu mir passt, was mir gefällt, was ich brauchen kann. Geerbte Dinge sind Projektionsflächen für Selbstbilder. Da wird hochgradig selektiv vorgegangen. Man integriert die Dinge aus der Vergangenheit in sein Leben der Gegenwart. Und da hat Erbe heute nur eine Chance, wenn es angepasst werden kann. Es sind nicht Blut, Schweiß und Tränen, die an den Dingen kleben müssen, um sie zum Erbe zu machen.“

„Was man nicht nützt, ist eine schwere Last“

Schon Goethe ließ seinen Faust monologisieren: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Nur der Besitz ist wertvoll, den man auch tatsächlich nützt – ein Credo, das im Wandel begriffen ist, weil sich verändert, was wir nutzen, wie wir leben. In dem Haus auf der Schwäbischen Alb, in der Eifel oder im Sauerland, auf das der Opa sein Leben lang gespart hat, wo sein ganzes Leben drinsteckt, möchten viele nicht mehr wohnen. „Die Frage ,Wie will ich leben?’ dominiert heute auch mehr und mehr den Umgang mit dem Erbe“, sagt Dr. Langbein. Deshalb werden die Einfamilienhäuser in der Provinz verkauft. Genauso wie nobles Porzellan und Silberbesteck, das nicht spülmaschinenfest ist. Auch wenn sich die Großmutter das anders vorgestellt hat. Denn „was man nicht nützt, ist eine schwere Last“, sagte der verzweifelte Faust bereits im 19. Jahrhundert. Wer alle paar Jahre jobbedingt umziehen muss, weiß, dass Last nicht nur im psychologischen Sinne zu verstehen ist.

„Unter hochindividualisierten Bedingungen ist eine Verpflichtung auf den Clan zunehmend problematisch“, sagt auch Langbein. „Man hat es zwar von der Familie bekommen, möchte aber selbst entscheiden, wer es bekommt und wie damit umgegangen werden soll. Dabei spielen verwandtschaftliche Verhältnisse immer öfter keine Rolle. Familie als Besitzeinheit wird beim Erbe immer fragiler. Der Umgang mit geerbten Dingen spiegelt auch gegenwärtige Familienbegriffe.“ Immer häufiger werden zum Beispiel Stiftungen gegründet oder Freunde und Pflegepersonal, die familiäre Aufgaben übernehmen, in Testamenten bedacht.

Auch Sarah hat mittlerweile vieles von dem weggegeben, was sie damals aus dem Haus ihrer Großeltern getragen hat. Heute steht noch eine volle Cognac-Flasche, die sie damals hinter dem Bett ihres Opas gefunden hat, in ihrem Bücherregal. Die Flasche ist älter als sie selbst. Sarah benutzt sie als Bücherstütze.

Hinweis: Dieser Text wurde zum ersten Mal am 4. Mai 2017 veröffentlicht und am 5. November 2020 noch einmal aktualisiert.

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