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Wenn Fremde weinen

Illustration: jetzt

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Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie "Hilfe, Menschen!" berichten wir ab sofort von unseren Sozialphobien. Heute: die Tränen fremder Menschen in der S-Bahn.

Die Zivilisation hat viel Gutes mit sich gebracht. Zum Beispiel haben wir gelernt, Konflikte mit Worten statt mit Steinäxten zu lösen. Überhaupt haben wir unsere Emotionen halbwegs unter Kontrolle. Wenn wir entgleisen, dann allein. Maximal noch in Anwesenheit eines echten Vertrauten, der uns selbst dann noch achtet, wenn er einen zähen Brei aus Tränen und Liebesbrief-Fetzen von unserem zuckenden Körper kratzen muss.

Mir gegenüber zuckte kürzlich auch jemand. Eine junge Frau im roten Kleid. Es war schön. Das Kleid jedenfalls. Das andere war schrecklich. Denn ich war weder eine Vertraute noch sonst irgendwer. Ich hatte einfach nur das Pech, in der selben S-Bahn wie sie nach Hause zu fahren. Absolut nichts hatte ich mit der Sache zu tun. Also guckte ich weg, als ob nichts wäre. Und fühlte mich trotzdem irgendwie verantwortlich. Wie jedes Mal, wenn ich mit überbordender Traurigkeit von völlig Fremden konfrontiert bin. Denn muss man nicht eigentlich eingreifen, wenn jemand leidet? Trost spenden, Händchen halten, Taschentuch zücken? „Es wird alles wieder gut“, will ich dann immer rufen. Aber woher soll ich das schon wissen? Vielleicht wird im Leben dieses Menschen absolut nichts mehr gut werden. Zumindest nicht so bald. Darum halte ich meine Klappe. In Wirklichkeit will ich die Situation in diesem Augenblick nur halbwegs erträglich machen. Auch für mich selbst.

Dieser fremde Elendshaufen im roten Kleid könnte auch ich sein

 

Denn mal ehrlich: Ich bin schon von meinen eigenen Gefühlen allzu oft überfordert. Weiß nicht wohin mit mir, wenn die Tränen kommen. Würde mich am liebsten vor mir selbst verstecken, denn dieses Herumgeleide, das passt kein bisschen in mein Selbstbild. Erst recht nicht in das, was ich der Welt von mir zeigen will. Und so erinnert mich die zur Schau gestellte Trauer der anderen an diesen leisen Horror, der ganz tief in meinem unberechenbaren Herzen sitzt: Dieser fremde Elendshaufen im roten Kleid, der könnte auch ich sein. Da würde ich doch lieber besoffen in die S-Bahn kotzen. Mein saugeiles, weil exzessives Leben zur Schau stellen halt. Statt rumzuheulen, weil Peter oder Paul oder sonst irgendein Arsch gemein zu mir war.

Es muss schlecht um jemanden stehen, der in öffentlichen Verkehrsmitteln Mascara an der Fensterscheibe verschmiert. Der nicht nur die Kontrolle über sein Make-up, sondern auch sein Gesicht verliert. So gehen meine Gedanken. Zugegeben, sie sind kleingeistig und unfrei und ängstlich. Und auch das passt nicht in mein Selbstbild, denn, hey, ich geb' ja wohl einen Scheiß auf das, was die anderen denken.

Schließlich wagte ich einen unauffälligen Blick aus dem Augenwinkel. So einen, von dem meine Mutter bestimmt wieder sagen würde: „Pass auf, sonst bleiben deine Augen für immer so!“ Die Frau zuckte noch immer lautlos vor sich hin, den Kopf in Richtung Fenster abgewandt. Die anderen Fahrgäste schienen nichts zu bemerken. Vielleicht wollten sie auch nicht. Aber ich, ich wollte. Und war noch immer ratlos. Sollte ich fragen, ob alles in Ordnung ist? Und was für eine dämliche, weil absolut rhetorische Frage wäre das eigentlich? Sollte ich sie ermuntern, mir zu erzählen, was passiert war? Und warum sollte sie das tun, wo wir uns doch gar nicht kannten? Sollte ich sie einfach in Ruhe lassen, so wie ich das bisher immer, wenn auch mit unterirdisch schlechtem Gewissen, gemacht habe? Es schien keine richtige Entscheidung zu geben.

Was würde ich wollen, säße ich heulend in der Bahn (ich meine, außer die Fähigkeit, mich dematerialisieren zu können)? Was weiß ich. Im Gegensatz dazu, kotzend in der Bahn zu sitzen, ist mir das nämlich noch nicht passiert. Vielleicht würde ich angesprochen werden wollen, vielleicht auch nicht. Doch: Höchstwahrscheinlich würde ich es selbst entscheiden wollen. Wie das ginge? Indem der andere weder wegguckt noch starrt. Indem er oder sie abwartet, ob ich den Blick erwidere. Indem man achtsam mit mir ist. Dann würde man schon sehen, was ich brauche.

Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, in so einem Moment irgendetwas richtig gemacht zu haben

 

Die Frau im roten Kleid hörte übrigens nicht auf, leise schniefend aus dem Fenster zu starren, bis ich aussteigen musste. Sie wollte meinen Blick nicht, den ich vorsichtig auf ihr abgelegt hatte. Ich hatte sie weder beruhigt noch ihren Schmerz gelindert. Peter oder Paul oder dieser andere wüteten wohl weiter in ihrem Inneren. Aber es war mir auch nicht mehr so wichtig. Weil ich zum ersten Mal in so einem Moment das Gefühl hatte, irgendetwas richtig gemacht zu haben.

Ihr Menschen da draußen, können wir uns vielleicht darauf verständigen, dass ihr das ab jetzt auch so macht? Ich meine, wer weiß, was die Zukunft bringt. Nächste Woche sitze vielleicht ich an dieser Stelle im roten Kleid und mit verschmierter Wimperntusche. Selbst wenn ich euren Blick nicht erwidern, sondern lieber allein mit meinem Scheiß bleiben wollte, könnt ihr euch sicher sein, dass ich mich freuen werde. Darüber, dass die Zivilisation nicht nur Steinäxte obsolet gemacht, sondern auch das Internet erfunden hat. Damit ihr nachlesen könnt, was ich brauche, wenn ich die Fremde bin, die in der Öffentlichkeit weint.

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