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Sozialphobie: Wie bittet man beim Umzug um Hilfe?
Ich habe nicht besonders viele Freundinnen und Freunde. Ja, ich weiß: schlimmer Satz, eine runde Mitleid, mit der stimmt doch was nicht. Ich bin allerdings eine überzeugte Verfechterin der Theorie, dass dieser Satz eigentlich für jeden gilt, wenn er ehrlich zu sich ist. Dass jeder Mensch fünf bis maximal acht wirklich gute Freund*innen hat. Ausnahmen mögen die Regel bestätigen – aber wenn mir einer erzählt, er hätte mindestens 15 Freund*innen, dann frage ICH mich, was mit DEM nicht stimmt.
Denn mehr als fünf, sechs Freund*innen, das schafft man doch gar nicht. Sich regelmäßig bei allen melden, sie regelmäßig treffen, in ihrem Leben auf dem Laufenden bleiben und daran aktiv teilnehmen, das ist doch bei den wenigen schon schwer genug. Und es gibt ja neben ihnen auch noch ganz viele andere, die einem das Sozialleben versüßen: Bekannte, Kommiliton*innen, Kolleg*innen, die Freund*innen von Freund*innen von Freund*innen, die dafür sorgen, dass das Ausflugsauto genauso wie der Geburtstagstisch immer voll besetzt ist.
Aber an einem Punkt komme ich mit meiner Theorie nicht weiter: beim Umzug. Denn wo im normalen Leben die Grenze zwischen Freund*in und Nicht-ganz-Freund*in verwischt, wird sie beim Umzug plötzlich ganz deutlich sichtbar. Leute, die nicht zu meinen engen Freund*innen gehören, zum Feiern einzuladen, ist cool, das geht einfach, da freuen sich alle. Sie dazu einzuladen, meine Möbel zu schleppen, das bringe ich einfach nicht über mich. Da hört die Freundschaft nicht auf, sondern da wird klar: Wir sind gar nicht befreundet.
Obwohl ich ja immerhin sechs von diesen Freund*innen habe, die ich ohne Skrupel fragen kann, zeigte mir mein letzter Umzug: Das reicht nicht. Denn wenn zwei in anderen Städten wohnen und nicht extra kommen können, zwei anderweitig verhindert sind und eine*r schon seine*ihre Hilfe für einen anderen Umzug versprochen hat, dann bleibt nur eine*r. (Immerhin der*die konnte nicht absagen, weil er mit mir zusammen (und zusammengezogen) ist.)
Aber ein Umzug zu zweit in den vierten Stock ohne Aufzug – mir war klar, dass das nichts werden kann. Ab diesem Moment begann eine schwere Zeit für mich – denn ich musste etwas tun, was mir in jeder Faser meines Körpers Unbehagen bereitete. Ich musste Kontakt zu Menschen aufnehmen, weil ich etwas von ihnen wollte. Etwas, das diese Menschen mir natürlich nicht geben wollen, denn wer gibt schon gerne seine Energie und seine kostbare Freizeit dafür her, Dinge von anderen durch die Gegend zu schleppen?
Außerdem reden wir hier von Leuten, die ich zwar schon häufig sehe, beim Weggehen, auf WG-Partys oder im Büro, bei denen ich mich aber nicht regelmäßig oder eher nie aktiv melde. Und wer schreibt nur dann, wenn er was braucht? Richtig: furchtbare Menschen. Und weil ich das nicht sein wollte, schrieb ich all die Wie-geht’s-dirs, Was-machst-dus, und Alles-klar-bei-dirs, die ich aufs ganze Jahr verteilt hätte schreiben sollen, innerhalb von einer Woche in sämtliche Chatfenster. Immer in der Hoffnung, dass irgendwann in der Unterhaltung das passieren möge:
Der*Die andere: Und was machst du so?
Ich: Ach, ich packe gerade für einen Umzug.
Der*Die andere: Ah, du ziehst um?
Ich: Ja, in zwei Wochen.
Der*Die andere: Da hab ich nichts vor, soll ich dir helfen?
Ich bin dieser furchtbare Mensch, der nur ankommt, wenn er was will
Natürlich passierte das nie. Nicht ein einziges Mal. Was wohl auch daran lag, dass mir diese Leute nichts schuldeten. Denn von ihnen hatte mich noch nie einer gefragt, ob ich ihm beim Umzug helfe. Ich weiß nicht, ob sie keine Möbel haben, ob sie nie umziehen oder sich einfach denken: „Hast du mal ihre Oberarme gesehen? Wie soll die uns denn helfen?“ Auf jeden Fall machte es mich wahnsinnig – weil ich eben doch als furchtbarer Mensch endete, der nur ankommt, wenn er was will.
Aber nicht nur deswegen fühlte ich mich schrecklich. Die Frage „Könntest du mir beim Umzug helfen?“ ist nicht irgendeine Frage. Sie verrät so viel über einen. Sie verrät, dass man nicht die Beliebteste in der Schule war, bei der der halbe Heimatort anreist, wenn sie Hilfe braucht. Dass man nicht die strahlende Ausnahme mit den 15+ Freund*innen ist. Sie macht einem schmerzlich bewusst, dass die 570 Facebook-Freund*innen keine wirklichen Freund*innen sind und dass man menschlich halt vielleicht doch irgendwas falsch macht, wenn man nicht mal acht Freund*innen zusammenbekommt, die einem beim Umzug helfen.
Es ist der Moment, in dem mein mühsam aufgebautes „Lass dir von Instagram nichts einreden, deren Leben sind auch nicht so toll“ in sich zusammenfällt. Denn die anderen machen Gruppenselfies #Umzugsfun. Und ich? Wohl eher #Umzugslebenskrise.
Brüder und Cousins sind die wahren Umzugsengel!
Das Traurige ist: All diese Erkenntnisse bringen mir nichts. Ich kann mir nicht vornehmen, bis zum nächsten Umzug neue Freund*innen zu finden. Oder aktiv Bekannte oder Kolleg*innen in den Stand eines Freundes oder einer Freundin zu befördern. Freundschaft war für mich immer schon etwas, das in seltenen Momenten einfach so passiert und über das man sich im Nachhinein erfreut wundert. Ich könnte versuchen, mich überall aufzudrängen und meine Hilfe ungefragt aufzuzwingen – auf dass bald alle in meiner Schuld stünden. Aber irgendwas sagt mir, dass diese Rechnung nicht aufgehen wird.
Wie manch andere dieses Problem lösen, wurde mir klar, als die Unterstützung vor der Tür stand, die mein Freund organisiert hatte: Wer braucht schon Freund*innen? Brüder und Cousins sind die wahren Umzugsengel! Meine mühsam zusammengebettelten Helfer brachten sich – völlig zu Recht – in der Küche bei Butterbrezn und Croissants erstmal eine Stunde auf den neuesten Stand („Wir haben uns ja ewig nicht gesehen“). Währenddessen staunte ich über diese Armee von fünf starken, großen Männern, die ich alle – wenn überhaupt – höchstens drei bis viermal vorher gesehen hatte und die trotzdem wie selbstverständlich mit meinen Kisten und Möbeln die Treppen hoch und runter marschierten. Nicht mal einen Kaffee wollten sie haben („Wir fahren lieber schon mal mit der ersten Fuhre in die neue Wohnung“).
Da zusätzliche Cousins und Brüder aber noch schwerer zu bekommen sind als neue Freund*innen, bleibt mir nur ein Ausweg, um dieser schlimmen Situation in Zukunft zu entgehen: Ich muss bis zum nächsten Umzug genug Geld verdienen, um mir professionelle Helfer leisten zu können. Freund*innen kaufen ist ja nie eine Lösung. Außer in diesem Fall. Da ist es für mich die einzige.
Dieser Text wurde zum ersten Mal am 01.05.2018 veröffentlicht und am 27.08.2020 noch einmal aktualisiert.