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Sozialphobie: Telefonieren
Lebensaufgabe Sozialkompetenz! So wichtig wie Wasser und Brot, so kompliziert wie eine Operation am offenen Herzen. In der Serie "Hilfe, Menschen!" berichten wir ab sofort von unseren Sozialphobien. Heute: Lieber jedes Klingeling ignorieren als ans Telefon gehen.
Stell dir vor, du sitzt mit deiner besten Freundin in einer Bar, sie erzählt dir gerade von ihrer Trennung und plötzlich drehst du dich mitten im Satz um und fängst ein Gespräch mit jemand anders an. Das wäre unhöflich! Oder du hast dich gerade an den Schreibtisch gesetzt und just in dem Moment kommt deine Oma rein und will wissen, ob du dich bei dem Wetter auch nicht erkältet hast. Unpassend! Oder du hast endlich Zeit für dich und willst den neuen Vibrator ausprobieren und dann klopft deine kleine Schwester an. Nervig!
Und genau so sind Anrufe. Immer.
Darum gehe ich grundsätzlich nicht ans Telefon. Vor allem, wenn es Freunde oder Verwandte sind. Die meisten von ihnen haben sich daran gewöhnt, dennoch bekomme ich oft ein tadelndes „Na, dich erreicht man ja auch nie!“ zu hören. Mein bester Freund fühlt sich schon manchmal als Sekretär missbraucht, weil er regelmäßig Leuten Auskunft über mich geben muss, die mich nicht erreichen (sorry!). Menschen, die mich noch nicht so lange kennen, sind schnell beleidigt oder frustriert von meiner Telefonphobie. Verständlich. Es ist auch nicht so, dass ich mein Telefon nie zum Telefonieren benutzen würde. Nur eben nicht zu jedem x-beliebigen Zeitpunkt. Vielleicht hat das mit meiner Erziehung zu tun: Wenn die Familie früher beim Essen zusammensaß, hatte niemand ans Telefon zu gehen. Dafür gab es den Anrufbeantworter.
Ist man einmal dran gegangen, ist es schwierig, glimpflich aus der Situation heraus zu kommen
Es liegt in der Natur von Anrufen, dass eine andere Person erwartet, auf der Stelle mit einem zu sprechen, während man gerade mit etwas Anderem beschäftigt ist – Fahrrad fahren, an der Kasse nach dem Portemonnaie suchen, die Ex der neuen Flamme auf Facebook stalken. Und dann ist die Freundin aus der Grundschule am Telefon. Will sie mir sagen, dass sie überraschungsmäßig nach Berlin gekommen ist und unten bei mir vor der Haustür steht? Oder will sie einfach mal wieder ein Stündchen mit mir quatschen und sich über unsere jeweiligen Leben updaten? Ersteres ist kurz und dringend, Letzteres lässt sich auch auf einen Moment verschieben, in dem ich mir für sie Zeit genommen habe.
Nur woher den Unterschied wissen? Ist man einmal dran gegangen, ist es schwierig, wieder glimpflich aus der Situation heraus zu kommen. „Hallo Anne, was willst du? Ein bisschen quatschen? Ah ja, nee, da hab ich grade nicht so den Nerv drauf“ – geht nicht. Was gerade so geht ist: „Hallo Anne, voll schön dich zu hören, aber es passt mir gerade nicht so gut, kann ich dich zurückrufen?“. Ist aber auch ein bisschen unangenehm und darum mache ich es lieber anders – und gehe einfach nicht dran. Warte ab, ob die Person ein zweites Mal anruft, dann könnte es etwas Dringendes sein. Im Zweifelsfall rufe ich später zurück, wenn ich Zeit und Muße habe.
Dieses Vorgehen ist im Grunde nicht unhöflich, sondern sogar höflicher. Wirklich unhöflich finde ich es, wenn jemand am Telefon nur mit „mh, mh“ antwortet, während im Hintergrund die Computertastatur klappert. Oder wenn jemand, wie mein Vater, am Telefon oft genervt und kurz angebunden ist, weil er eigentlich gerade auf der Arbeit ist. Wenn ich mal mit jemandem telefoniere, schenke ich ihm darum auch meine ganze Aufmerksamkeit.
Vor Zuhörern telefonieren, die beurteilen, ob ich auch kluge Fragen stelle? Schrecklich!
Anrufe haben aber noch einen zweiten Nachteil, den ich sogar noch schlimmer finde, als ständig bei irgendetwas unterbrochen zu werden: Es ist mir einfach wahnsinnig unangenehm, wenn mir andere Menschen beim Telefonieren zuhören! Was aber in Zeiten, in denen jeder ein Telefon in seiner Hosentasche mit sich herumträgt, ständig passiert. Vor allem, wenn es offizielle Anrufe sind, quälen mich diese Situationen sehr: Wenn ich also in unserem gemeinsamen WG-Arbeitszimmer für eine Recherche bei der Pressestelle des Bundestages anrufen muss oder bei der Hausverwaltung wegen des Schimmels im Badezimmer. Oder wenn mich eben diese offiziellen Gesprächspartner zurückrufen, während ich gerade vorm Café auf eine Freundin warte, und ich rangehen muss, weil ist ja wichtig.
Meine Stimme rutscht dann in eine unnatürliche Tonlage, ich stelle mich in einem gekünstelten Singsang mit Vor-, Nachnamen, Arbeitsplatz respektive Wohnadresse und Anliegen vor und bin dabei alles andere als ich selbst. Diese einstudierte Szene ist mir schon vor mir selbst peinlich genug und ich muss mich oft erst eine halbe Stunde auf meinem Schreibtischstuhl winden, um mich überhaupt dazu durchzuringen. Das ganze vor Zuschauern beziehungsweise -hörern, die womöglich beurteilen, ob ich auch kluge Fragen stelle und professionell genug klinge? Schrecklich! Müsste ich in einem Großraumbüro arbeiten, würde ich auf eine schalldichte Telefonkabine bestehen.
Selbstverständlich habe ich auch keine Lust, den ganzen U-Bahn-Waggon darüber zu informieren, wie es mit dem Date von gestern Abend ausgegangen ist. Höchstwahrscheinlich wollen das meine Mitreisenden auch gar nicht wissen. Ich selbst finde es schließlich auch eher anstrengend, mir stationenlang das Privatleben andere Leute anzuhören. Auch hier gilt: nicht ans Telefon zu gehen ist manchmal die sozial verträglichere Variante. Auch wenn der Mensch am anderen Ende dann vielleicht wieder meinen besten Freund fragt, warum ich denn nicht erreichbar bin.