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„Bei dir war Licht an“

Illustration: Daniela Rudolf

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Es passiert nicht mehr so häufig wie damals, als das Telefon noch teuer und für Gespräche von Relevanz reserviert war. Doch es passiert immer noch oft genug, dass es einfach so und ohne telefonische Vorwarnung an der Tür klingelt. Es ist dann nicht der Postmann mit irgendetwas von mir oder irgendwem anders heiß Ersehntem. Sondern eine Bekannte, die gerade in der Gegend war und Licht bei mir gesehen hat. Oder ein Freund, der nach Jahren endlich mein vermisstes Buch aus seiner Sofaritze gefischt hat und es mir umgehend zurückgeben will. Oder eine Nachbarin, die Äpfel klau…, äh, ernten war und jetzt nicht weiß, wohin damit.

Und obwohl die Gründe für diesen spontanen Besuch in den allermeisten Fällen hehre sind, will bei mir einfach keine Freude aufkommen. Im Gegenteil, mein Körper versteift sich wie der einer Leiche, meine Gesichtszüge entgleiten. Der Besuch aber lächelt fröhlich und tritt auf der Fußmatte wie ein aufgeregtes Kind von einem Bein auf das andere. Totstellen geht nicht mehr – offensichtlich stehe ich bleich, aber halbwegs lebendig in der Tür. „Ist grad ein schlechter Zeitpunkt“, sage ich hilflos. „Ach, komm schon, nur ganz kurz!“, sagt der Besuch.

Meine Wohnung ist meine Höhle

Es ist nicht nur so, dass ich gerade Dinge von höchster Dringlichkeit zu erledigen habe. Löchrige Socken aussortieren, Pickel ausdrücken oder darüber sinnieren, ob ich meine besten Jahre möglicherweise schon hinter mir habe – Tätigkeiten, bei deren Ausübung ich nicht unterbrochen werden will. Nichtmal ganz kurz.

Nein, etwas anderes wiegt viel schwerer: Es mag ja Menschen geben, die in einem Mein-perfektes-Leben-auf-Instagram-Idyll leben. Bei ihnen ist jederzeit alles sauber und unverfänglich. Selbst den Sonntag verbringen sie vorzeigbar im Kaschmir-Jumpsuit, während ich schmutzig ins Sofa schwitze. Meine Wohnung ist meine Höhle. Weitab von jeglicher Zivilisation kann ich mich hier in den Neandertaler verwandeln, der ich im Grunde meines Herzens bin – unangezogen, ungekämmt, unaufgeräumt.

Komme ich nach Hause, zerre ich schon an der Wohnungstür die Skinny Jeans von mir herunter und angele nach irgendetwas mit drei Streifen drauf. Dann binde ich mir die Haare zu einem Gebilde hoch, das man in den Achtzigern wohl „FM-Palme“ nannte. FM kommt von „Fick mich“ – welch Ironie. Bei meinem jetzigen Anblick denkt garantiert niemand an Sex. Der Besuch guckt auch schon so komisch, das ist er nicht von mir gewöhnt. Wenn ich auf Menschen eingestellt bin, sehe ich ganz adrett aus. „Ich wollte grade aufräumen“, lüge ich, um meinen merkwürdigen Aufzug zu entschuldigen. Und das, was den Besuch in meiner Höhle erwartet.

 

Schmutzige kleine Geheimnisse

Nicht, dass ich Leichenteile in Einmachgläsern konservieren oder inmitten von Zeitungsstapeln und Pappkartons hausen würde. Im Gegenteil, meine Wohnung ist ganz ansehnlich, und ich zeige sie gern her. Zumindest dann, wenn ich Gelegenheit habe, mich darauf vorzubereiten. So aber gehe ich in Gedanken alle sensiblen Stellen durch, während ich im Flur voranschreite. Wo steht der Laptop mit dem offenen „Liebeszauber – So bekommst du ihn zurück“-Fenster? Liegt nicht noch immer dieser Haufen benutzter Kleenex von der letzten Erkältung neben dem Sofa? Quillt der Mülleimer derart über, dass sein Inhalt langsam auf den Boden ausweicht? Wartet mein Vibrator vielleicht mitten auf dem Bett auf mich? Und was, wenn der Besuch aufs Klo muss – habe ich den blutigen Tampon vorhin entsorgt oder wollte ich das nur tun?

Das spontane Eindringen in meine Wohnung ist nichts anderes, als würde man mein geheimes Tagebuch auseinandernehmen: Hier wie da alles voller schmutziger kleiner Geheimnisse, Entgleisungen, Lächerlichkeiten. Dinge eben, die nicht für die Anderen bestimmt sind. Die kriegen was anderes: meine Erfolge. Meinen guten Geschmack. Meine Sexyness. Vielleicht auch ein wenig Drama. Aber nie so, dass es zu viel wird. Außen ist eben außen, und Innen ist eben innen. Authentizität ist etwas, das man sich trauen muss, erst recht, wenn man gern FM-Palmen trägt. Mit meiner Höhle im Rücken darf ich feige sein. Und ist meine Feigheit nicht doch irgendwie authentisch?

„Spontaner Besuch ist sich für nichts zu schade“

„Kaffee?“, frage ich den Besuch, als er in die Küche vorgedrungen ist. „Winter-Depression?“, fragt er zurück und zeigt auf die Packung Johanniskraut-Tabletten auf der Arbeitsplatte. Oder wundert sich mit Blick auf die Papiertonne: „Krass, wie viel Pizza du isst!“ Oder er muss tatsächlich aufs Klo. „Soso, extra große Kondome!“, schreit er durch die geschlossene Tür, „Mit wem schläfst du denn im Moment?“ Nein, spontaner Besuch ist sich für nichts zu schade. Im Gegensatz zu mir ist er jedoch kein bisschen beschämt. Er zeigt aufrichtiges Interesse an meiner Gesundheit und sexuellen Entwicklung, ja, er freut sich geradezu, dass er endlich auch an diesen Aspekten meines Lebens teilhaben darf.

„Ruf beim nächsten Mal zur Sicherheit vorher durch“, gebe ich dem Besuch auf den Weg mit. „Spontan ist auch mal schön“, sagt er. Dieser Tagebuchleichenfledderer. Wenn der wüsste. Weiß er aber nicht. Denn er selbst gehört meist zu der Spezies von Menschen, die ihre schmutzigen Unterhosen nicht mal dann unter den Schrank schieben, wenn ein Besuch schon seit drei Tagen angekündigt war. Bewundernswert ehrlich. Aber reuelos nachzuleben vermutlich erst, wenn man auf einer anderen Bewusstseinsstufe angekommen ist. Nur welche ist es? Die Außen-wie-innen-Stufe? Oder die Scheißegal-Stufe? Und was davon ist besser? Ich jedenfalls bin von beiden weit entfernt. Ein Höhlenmensch eben. 

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