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Ein Traumforscher analysiert unsere wiederkehrenden Träume
Ich habe einen Traum – und der verfolgt mich seit vielen Jahren. Darin sitze ich in der Abiprüfung, meistens im Mathe-Abi, und kann keine einzige Aufgabe lösen. Ich hab nämlich vergessen zu lernen. Mit diesem Traum bin ich nicht alleine: Laut einer Studie der Universität Montreal träumen 72,4 Prozent der Studierenden von ihren Prüfungen oder anderen Situationen aus der Schulzeit. Andere Menschen träumen davon, verfolgt zu werden oder ins Bodenlose zu fallen. Was bedeuten unsere wiederkehrenden Träume? Ein Zoom-Call mit Michael Schredl, Traumforscher und Leiter des Schlaflabors des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim.
jetzt: Herr Schredl, warum träume ich elf Jahre nach meiner Abiturprüfung immer noch, dass ich in ihr versage?
Michael Schredl: Ich vermute jetzt mal, dass Sie ihr Abitur in Wirklichkeit geschafft haben.
Ja, hab ich.
Schon Sigmund Freud hat Prüfungsträume gehabt. Und wie Sie hat er immer von Prüfungen geträumt, die er im Wachleben bestanden hat. Es geht in diesen Träumen nämlich nicht darum, dass man etwas nicht kann, sondern um die Angst, etwas nicht zu können. Der Prüfungstraum ist also eine Metapher für die Angst, zu scheitern.
Der Traumforscher Michael Schredl analysiert, was unsere Träume bedeuten.
Aber warum träume ich dann nicht von dieser Angst an sich? Sondern von einer Prüfung, die ich schon längst hinter mir habe?
Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Filmregisseur und müssten einen Film über die Angst vor dem Scheitern drehen. Was für einen Film würden Sie machen? Vielleicht einen über eine Prüfung, in der alles schiefgeht, mit Action und Emotionen. Im Traum ist es ganz ähnlich: Ihre Angst nimmt dort eine überspitzte, dramatische Form an und wird in plastische Bilder umgesetzt. Die Angst vorm Scheitern in einer Prüfung kennt jeder, deswegen kommt dieser Traum auch so häufig vor.
„Ob Träume eine Funktion haben, ist bisher unklar“
Ich dachte immer, dass sich nachts meine verdrängten Ängste aus der Schulzeit wieder bei mir melden.
Ihre Angst zu scheitern ist nicht verdrängt, die erleben Sie ganz bewusst. Wenn Sie im Büro sind, müssen Sie jeden Tag Leistung zeigen. Das ist in unserer Gesellschaft so. Und es kann natürlich immer passieren, dass jemand mit Ihrer Leistung nicht zufrieden ist. Der Traum von der Abi-Prüfung ist also wie gesagt nur eine Art Metapher für eine ganz andere Frage, die Sie sich stellen: Wie bewerten andere meine Leistung? Es kann ja schließlich immer passieren, dass Ihr Chef sagt: Was haben Sie denn da für einen Schrott geschrieben?!
Klar, das kann passieren.
Im Traum erleben Sie den Leistungsdruck also einfach nur emotional stärker als im Wachzustand.
Warum träume ich überhaupt von meinen Ängsten? Hat das einen evolutionären Grund?
Ob Träume eine Funktion haben, ist bisher unklar. Es gibt eine Theorie, die sagt, dass wir im Schlaf fürs Leben üben. Wenn man im Traum also Angst hat und wegläuft, wird man im Wachzustand möglicherweise nicht so schnell gefressen. Hat also auch Ihr Prüfungstraum einen Sinn? Darüber kann man sich streiten. Die meisten Menschen fühlen sich am nächsten Morgen jetzt nicht unbedingt besser. Manche denken aber auch: Jetzt lerne ich lieber mal fleißig und schaue, dass ich meine Aufgaben gut meistere. Es kommt also ganz darauf an, wie Sie selbst mit dem Traum umgehen.
Was bedeuten denn andere Träume? Eine Kollegin von mir träumt zum Beispiel ständig, dass sie das Handy einer Freundin kaputt macht. Sie verheimlicht es, aber am Ende kommt es natürlich doch raus.
Es gibt verschiedene Varianten dieses Traums. Die schärfste ist, dass man im Traum jemanden abmurkst und Angst hat, dass die Leiche im Keller gefunden wird. Bei diesen Träumen geht es darum, dass man einen Fehler gemacht hat und nicht wirklich offen damit umgeht. Und es geht um die Angst vor der Reaktion der anderen auf diesen Fehler. Auch dieser Traum spiegelt also normalerweise nicht eine reale Erfahrung wider, sondern die Sorge, so eine Situation erleben zu müssen.
„Bei Menschen um die 20 ist die Angst vor dem Scheitern besonders groß“
Eine andere Kollegin träumt immer wieder, dass sie plötzlich schwanger ist und im Supermarkt ganz konzentriert Baby-Waren einkaufen muss.
Hier geht es um das Thema Verantwortung. Es kann also sein, dass man im echten Leben eine Verantwortung übertragen bekommt, zum Beispiel eine berufliche Aufgabe, und sich fragt: Schaff ich das alles? Und was ist die größte Verantwortung, die man haben kann? Kinder! Für ein Kind sorgen, ist schon High Level. Der Traum vom Baby ist also auch hier eine Metapher für: Kriege ich das alles hin, was ich mir da aufgebürdet habe?
Wie kommt es, dass wir in unseren Träumen immer wieder mit der Angst vorm Scheitern konfrontiert werden?
Wir erleben in unseren Träumen auch andere Ängste. Viele Menschen träumen zum Beispiel ständig, dass sie ins Bodenlose fallen. Sie träumen also von einem Moment, gegen den sie überhaupt nichts tun können. Das ist der absolute Kontrollverlust und eine dramatische Version von: Ich fühle mich hilflos und habe keinen blassen Schimmer, was ich dagegen tun kann. Die Angst vor dem Scheitern ist also nur eine von vielen Ängsten, die wir im Traum erleben. Aber klar, wir leben in einer Leistungsgesellschaft und gerade bei jungen Menschen ist diese Angst sehr präsent.
Wir jungen Menschen träumen also ganz besonders oft, dass wir in einer Prüfung versagen?
Kinder interessanterweise nicht. Die träumen eher von der Angst, alleine auf der Welt zu sein, ohne ihre Eltern. Der Traum von der Prüfung kommt normalerweise erst nach der Schule.
Das war bei mir genauso. Von der Abi-Prüfung hab ich erst ein paar Jahre nach meinem Abitur geträumt.
Das liegt daran, dass dieser Traum nicht direkt mit dem Abitur zu tun hat, sondern mit dem Leistungsdruck, den Sie danach erleben. Bei Menschen um die 20 ist die Angst vor dem Scheitern nämlich besonders groß. In dieser Phase wird man viel geprüft und fängt in seinem Job an. Es ist eine Zeit der Unsicherheit. Wird man älter, fühlt man sich im Beruf normalerweise sicherer. Und die Prüfungsträume werden seltener.
Bei mir ist es auch schon mehrere Monate her, dass ich das letzte Mal von meiner Abiprüfung geträumt habe.
Die einfachste Erklärung dafür ist, dass Sie entspannter geworden sind. Wenn der Chef heute zu Ihnen sagt: Das war jetzt nicht so gut, dann sagen Sie: Okay, dann mach ich’s halt nochmal. Wenn mal was schiefgeht, ist das kein Drama mehr. Sie wissen: Beim nächsten Mal wird’s besser.