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Plädoyer für mehr Gelassenheit im Umgang mit moralischen Feindbildern
Wenn ein Arzt öffentlich erklärt, dass Yoga auch schaden kann, ein Wissenschaftler, dass Chia-Samen gar nicht so gesund sind, ein Ernährungsaktivist, dass auf Bio-Siegel kein Verlass ist, eine Reporterin, dass Avocados die Umwelt ruinieren – all diesen Sätzen ist etwas gemein: Die Reaktionen auf sie sind oft die reine Lust an der moralischen Revanche. Oft werden diese Neuigkeiten voller Häme weiterverbreitet. Es ist die gleiche Häme, mit der Nicht-Vegetarier die Rückkehr zur Fleischeslust ihrer Vegetarier-Freunde kommentieren oder mit der über, gähn, SUV-fahrende Biomarktkundinnen und Manufactum-Kunden mit teuren Küchengeräten gespottet wird.
Häme, sagt Wikipedia, „ist eine Kombination aus Schadenfreude, Besserwisserei und Sadismus“
Manchmal lohnt es ja, die Bedeutung altbekannter Worte neu nachzulesen. Häme, sagt Wikipedia, „ist eine Kombination aus Schadenfreude, Besserwisserei und Sadismus.“ Häme ist, die Irrtumsentlarvung des Feindes öffentlich auszukosten, selbst noch mal nachzusetzen und sich dann vor aller Augen händereibend auf der besseren Seite zu wähnen: „Ich habe es ja schon immer gesagt!“. Im Falle von Avocados, SUVs in Großstädten, Latte-Macchiato-Müttern, Manufactum- und Biomarktkunden mit Affinität zu Yoga und veganer Ernährung ist Häme doppelt langweilig, weil es sich bei ihrem Gegenstand um längst zu Tode verspottete Klischees handelt.
Aber auch sonst ist Häme ein irgendwie zu kurz gedachter Selbstaufwertungsmechanismus, insbesondere wenn ihr Gegenstand Moral oder Weltverbesserungsversuche sind. Menschen, die andere Menschen für ihre Lebensstil-Experimente verhöhnen und ihnen in zynischer Spielverderbermanier mögliche Denkfehler in ihren neuen Glaubenssätzen vorhalten, sind auch doof, nur genau andersrum. Wer den Fall eines vermeintlichen Moralisten oder Rechthabers öffentlich zelebriert, erregt den Verdacht, selbst der viel schlimmere Moralist und Rechthaber zu sein. Drüberstehen und sich interessanteren Dingen widmen kann er nicht. Häme ist daher selten Größe, sondern meistens Kleingeist.
Das hier soll bloß kein Plädoyer für Scheinheiligkeit werden. Nur für eine neue Gelassenheit mit moralischen Feindbildern. Isst die beste Freundin plötzlich nur noch veganen Käse aus Kokosfett, weil sie glaubt, dass das jetzt die Ernährungsform für eine bessere Welt und eine bessere Gesundheit sei, kann man das durchaus verblendet finden und trotzdem höflich dazu schweigen. Man selbst macht, wenn man lang genug danach sucht, schließlich auch genügend seltsame Dinge im Glauben, sie seien besonders gut für einen und den Rest der Welt. So lange die Kokosfreundin einem nicht vorschreiben will, jetzt auch jeden Tag Kokosfettkäse zu essen und deshalb beginnt, einem das rohmilchgebutterte Doppelrahmkäsebrot schlechtzureden, kann man ihre neue Macke liebevoll hinnehmen. Erscheint schließlich ein großer Report über die Schädlichkeit von Kokosfettkäse, empfindet man berechtigter- und unvermeidlicherweise ein bisschen Schadenfreude. Schadenfreude ist ein relativ unschuldiges Gefühl, wie Neid oder Liebe oder Wut, man kann sich nun einmal schwer dagegen wehren und das muss man auch gar nicht. Häme aber ist die bewusste Inszenierung dieser Schadenfreude. Häme wird strategisch zum eigenen Vorteil eingesetzt, um den anderen ab-, und sich selbst aufzuwerten und daraus Selbstbewusstsein zu speisen. Für oder gegen Schadenfreude kann man sich nicht entscheiden. Für oder gegen Häme schon.
Deshalb nichts gegen Gefühle. Bloß für einen freundlicheren Umgang damit. Für eine Positionierung dicht an der eigenen Wahrheit, aber trotzdem jenseits des Hass. Denn die ewige Häme hat noch ein anderes Problem: Wird sie zum Garant für Beifall, sitzt man irgendwann in einem Konflikt, den man noch aus der Unterstufe kennt. Und zwar aus Cliquen, in denen soviel gelästert wurde, dass das Lästern das einzige war, das die Gruppe überhaupt zusammenhielt. Gab es einmal gar nichts mehr zu lästern, herrschte bedrohliche Stille, man war fast versucht, sich eine unerhörte Begebenheit auszudenken, damit nur das schöne Zusammengehörigkeitsgefühl wieder hergestellt sei. Niemand wurde verschont. Man verstieg sich in eine dermaßene Läster-Hysterie, dass sie irgendwann das einzige verbindenden Element der Gruppe war. Und schon wurde aus einer ehemals weltinteressierten, gutmütigen Jugendseele eine Art OK!-Lokalmagazin, das für den nächsten Skandal auch über Leichen zu gehen bereit gewesen wäre.
Wäre es nicht souveräner, stattdessen eine neue Freundlichkeit zu etablieren?
Häme wird schneller zum Verhaltensmuster als man glaubt. Häme ist so etwas wie das Kokain des Geistes. Bald schon geht’s nicht mehr ohne, weil nichts, einfach gar nichts so schnell Ego-aufputschend wirkt, wie andere auslachen oder niederreden. Keine schöne Lebensart, wenn man länger drüber nachdenkt. Wäre es nicht irgendwie eleganter und souveräner, stattdessen eine neue Freundlichkeit zu etablieren? Nein, keine Heuchelei, sondern einfach nur ein weltgewandtes und tiefenentspanntes Interesse an den Wunderlichkeiten der anderen, deren Sinnhaftigkeit man im Zweifel souverän unkommentiert lassen kann? Einfach als Zeichen guter Schule, als gute Manier, als eine Art Unisex-Gentleman-Attitüde? So wie man als Kind schon beigebracht bekommen hat, dass es höflicher wäre, an einer großen Tafel „Darauf möchte ich heute gern verzichten!“ auszurufen, als „Igitt, sowas ess ich nicht, eher kotz ich, ich HASSE Kartoffeln SCHON IMMER!“? durch den Saal zu brüllen.
Auf Häme zu verzichten bedeutet ja keineswegs, fortan völlig unkritisch oder humorlos durchs Leben zu gehen. Es bedeutet nur, sich nicht denkfaul in vorgefertigte Klischees zu versteigen, und überhaupt eine gewisse Entspanntheit und innere Distanz zum Irrsinn menschlicher Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Denn mindestens so nervig wie jemand, der dauernd über sein Vegansein redet, ist nur der, der sich dauernd über Leute aufregt, die dauernd über ihr Vegansein reden und der sich dermaßen in den Veganerhass reinsteigert, dass er in seinem Nichtveganersein irgendwann missionarischer wird als jeder Ultra-Veganer es jemals im Sinn hatte.
Hinweis: Dieser Text erschien erstmals am 3. August 2017 und wurde am 24. März 2021 nochmals veröffentlicht.