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Warum bestimmt immer nur ein Thema den öffentlichen Diskurs?

Foto: Michael Jungblut

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Die Corona-Pandemie ist das nachrichtliche und gesellschaftliche Thema des Jahres. Bereits im März sagte UN-Generalsekretär António Guterres, Corona sei die „größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg“. Dadurch sind andere Themen im Diskurs untergegangen. Über die Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten in Thüringen durch die Hilfe der AfD sprach nach einem kurzen Aufschrei kaum jemand mehr, auch Themen wie die Black-Lives-Matter-Proteste oder die Situation der Uiguren in China wurden in vielen Medien eher schlaglichtartig als nachhaltig beleuchtet. Klimaaktivist*innen, denen vergangenes Jahr noch die ganze Welt zuhörte, kämpfen 2020 um Aufmerksamkeit. 

Kann sich der Mensch mit nicht mehr als einem großen Thema beschäftigen? Ist unser Hirn vielleicht einfach nicht dafür ausgelegt, mehrere Probleme unserer Welt gleichzeitig auf dem Schirm zu haben? Darüber haben wir mit Maren Urner gesprochen. Sie ist 35 Jahre alt, Neurowissenschaftlerin und lehrt als Professorin für Medienpsychologie an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln. Sie hat das Online-Magazin Perspective Daily mitgegründet und das Buch „Schluss mit dem täglichen Weltuntergang: Wie wir uns gegen die digitale Vermüllung unserer Gehirne wehren“ geschrieben.

jetzt: Frau Urner, es scheint uns im öffentlichen Diskurs nicht möglich zu sein, zwei große Themen gleichzeitig zu besprechen – den Klimawandel und die Corona-Pandemie zum Beispiel. Woran liegt das?

Maren Urner: Daran, dass es einen schmalen Grat zwischen überfordert und gut informiert sein gibt. Die Frage ist doch: Wie können wir bei solchen Themen einen langfristigen Diskurs schaffen, der Hintergründe einordnet und gesellschaftlich stimuliert? Über den Journalismus sagen wir, dass er die vierte Gewalt im Staat sein soll. Es sollte Journalist*innen also darum gehen, Informationen in einer sinnvollen Art und Weise zu verbreiten.

Was heißt sinnvoll?

Journalist*innen müssen nicht nur Themen, die uns gesellschaftlich bewegen, auswählen, sondern auch Informationen und Quellen auswählen. Dabei sollte es häufiger um Zusammenhänge und die Frage „Was jetzt?“ gehen. Dann würden Themen auch als weniger stark getrennt voneinander wahrgenommen werden. 

„Dass ein Überangebot uns überfordert, sehen wir an Phänomenen wie der FOMO

Finden Sie, es gibt zu viele mediale Inhalte?

Wir haben auf jeden Fall ein mediales Überangebot. Selbst, wenn wir 24 Stunden am Tag journalistische Inhalte konsumieren würden, könnten wir nicht alles hören, schauen und lesen, was produziert wird. Das Gefühl von „Ich habe die Zeitung durch“ und „die Nachrichten des Tages gehört oder gesehen“ ist ersetzt worden durch die potenzielle Dauerverfügbarkeit mit Inhalten auf verschiedensten Kanälen. Die Sicherheit „Okay, du hast dich informiert“ haben wir als Rezipienten nicht mehr. Dass ein Überangebot uns überfordert, sehen wir an Phänomenen wie der FOMO

Die fear of missing out, also die Angst, etwas zu verpassen. 

Neulich habe ich den Begriff FOBO kennengelernt, die fear of better options. Das finde ich bezeichnend und beschreibt das Phänomen, dass wir nach einer Entscheidung angesichts vieler Optionen stärker zweifeln, ob wir die richtige oder gar beste Entscheidung getroffen haben. Wir können uns nicht nur schlechter konzentrieren, weil wir Angst haben, dass wir parallel etwas Wichtiges verpassen, sondern genießen auch weniger. 

Also ist dieses mediale Überangebot schlecht für uns und führt dazu, dass wir nur ein Thema besprechen?

Nein, diese ganzen Informationen sind auch eine riesige Chance. Wir müssen nur lernen, damit besser umzugehen. Wir müssen Gewohnheiten entwickeln, um nicht zu Informations-Junkies zu werden. Denn mittlerweile ist auch gut erforscht, dass durch Push-Nachrichten, endlose Scrollmöglichkeiten und andere digitale Medientechniken Abhängigkeiten entstehen können, da sie die gleichen Belohnungsmechanismen im Gehirn aktivieren wie Essen, Sport, Sex und eben auch Spiel- und Drogensucht. Das Gegenteil des „Ständig-Erreichbar-Seins“ ist das Phänomen der news avoidance. Dabei entscheiden sich Menschen bewusst gegen Nachrichtenkonsum, weil ihnen das alles zu viel ist. Damit einher geht natürlich, dass sie dann nicht mehr über gesellschaftliche Themen informiert sind. Und da wären wir wieder beim Anfang, der vierten Macht: Da hätte der Journalismus dann in seiner Aufgabe, die gesellschaftlichen Debatten abzubilden, versagt.

„Evolutionstechnisch sind wir noch nicht auf dem Stand, dass unser Hirn mit dieser Informationsflut gut arbeiten kann“

Wie können wir denn lernen, besser mit der Informationsflut umzugehen?

Unser Hirn ist kein Computer. Es gibt keine Speichern- und Löschtaste und Wahrnehmungen und Erinnerungen sind immer individuell. Evolutionstechnisch sind wir noch nicht auf dem Stand, dass unser Hirn mit dieser Informationsflut gut arbeiten kann. Wir müssen also Bildungsmechanismen anwenden, die uns beim Umgang helfen. Finnland ist da Vorreiter und hat zum Beispiel kritisches Denken nicht als Schulfach etabliert, sondern als Instrument in allen Schulfächern verankert. Die Schüler lernen also in jedem Fach, Quellen zu hinterfragen, Informationen einzuordnen und sie nach ihrer Seriosität zu ordnen. Das zahlt sich aus, die sind Spitzenreiter im Bereich der Medienkompetenz.

Unser Hirn ist also von Natur aus nicht darauf ausgelegt, sich mit mehreren Dingen gleichzeitig zu beschäftigen?

Sagen wir so: Multitasking ist ein Mythos. Zumindest, wenn es um die gleiche kognitive Domäne geht. Natürlich können wir spazieren gehen und gleichzeitig reden. Wir können aber nicht gleichzeitig etwas aufmerksam lesen und aufmerksam Podcast hören. Wir springen dann hin und her. Dieses sogenannte task switching kostet uns erhebliche mentale und kognitive Ressourcen. Wenn wir uns vorstellen, dass wir 100 Prozent Aufmerksamkeit zur Verfügung haben, dann geht ein großer Teil davon drauf, zwischen den Inhalten hin und her zu springen. Das macht uns im Übrigen nicht nur ineffizienter, sondern auch unzufriedener. Untersuchungen zeigen, dass es nach einer Ablenkung, wenn wir konzentriert einen Text lesen oder eine Aufgabe lösen, mehr als 25 Minuten dauern kann, bis unsere hundertprozentige Aufmerksamkeit wieder bei dem Text oder der Aufgabe liegt.

Wenn ich auf dem Handy oder Desktop etwas lese, dann kommt ja ständig irgendwelches Zeug dazwischen. Zum Beispiel Werbung, Push-Nachrichten oder Verweise auf andere Artikel.

Genau. Es ist deshalb nicht nur eine Frage von „Welche Medien konsumieren wir?“ sondern auch  Frage von „Wie konsumieren wir Medien?“. Unser Hirn ist dazu ausgelegt, abgelenkt zu werden. Das ist evolutionsbedingt natürlich sinnvoll. In der Steinzeit war eine verpasste Ablenkung durch Säbelzahntiger oder Mammut der sichere Tod. War der Steinzeitmensch zu vertieft in seine Arbeit, war es vorbei. Deshalb ist  unser Hirn quasi ständig auf der Suche nach Ablenkung und dauerhaft wachsam. Die gerade herrschende Informationsstruktur mit ihrem Überangebot ist sozusagen der Supergau für unser ablenkungsfreudiges Hirn.

„Beim Gehirn machen wir uns im Gegensatz zu unserem Körper viel weniger Gedanken darüber, was wir in uns reinschaufeln“

Gefühlt werden viele Themen verdrängt, obwohl sie noch nicht zu Ende besprochen wurden. Die Situation im Camp Moria vor dem Brand oder die Debatte um Rassismus in der Polizei zum Beispiel. Woran liegt das? 

Hier kommen unser ablenkungungsfreudiges Hirn und die Finanzierung von Journalismus, gerade im Digitalen, zusammen. Dort werden häufig nur die Überschriften gelesen, für Einordnung bleibt wenig Zeit und der Drang, sich mal eben zu informieren oder eben ablenken zu lassen, wird durch Clickbait und Überschriftenoptimierungen ins schier Unermessliche getrieben. Generell brauchen wir also einen verantwortungsbewussteren Journalismus auf Seiten der Medienschaffenden und unbedingt mehr Medienhygiene auf Seiten der Konsument*innen.

Was heißt Medienhygiene?

Wir alle klicken, lesen und schauen lieber einfache Inhalte, am liebsten stakkatomäßig in Headlines, im Instagram-Style. Ähnlich wie mit unserer Vorliebe für Süßes und Fettiges bezogen auf unsere Ernährung. Das heißt aber nicht, dass das gut für unsere Gesundheit ist. Genauso verhält es sich mit Informationen. Beim Gehirn machen wir uns im Gegensatz zu unserem Körper viel weniger Gedanken darüber, was wir in uns reinschaufeln und was nicht. Da braucht es meiner Meinung nach eine radikale Veränderung.

Wie könnte so eine radikale Veränderung denn aussehen?

Naja, radikal heißt erst mal grundlegend, also an die Wurzel des Problems gehend. Da gebe ich gerne wieder das Beispiel Finnland. Wir müssen Kindern bereits in der Schule beibringen, wie sie mit Informationen umgehen, sie aufnehmen und verarbeiten. Das zu lernen ist ein Prozess, aber es geht, wenn man früh genug damit anfängt und an vielen Stellen ansetzt. Wenn wir mehr Wert auf Medienkompetenz in den Lehrplänen der Schulen legen, können zukünftige Generationen nicht nur gleichzeitig über den Klimawandel und eine Pandemie sprechen, sondern sehen auch die Zusammenhänge zwischen beidem besser.

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