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Höflichkeit ist bei ungewollten Anmachen fehl am Platz
„Letztens war ich mit meinem Bruder feiern und er hat eine abgeschleppt. Als ich die beiden dann bei ihm abgesetzt habe, habe ich ihm noch sicherheitshalber zwei Gummis zugesteckt. Der hat selbst nie welche parat. Ich habe immer welche dabei. Haha.“ Das war Mike. Mein Fahrlehrer. Auch, wenn diese Situation schon eine Weile her ist, erinnere ich mich noch gut daran. Vor ihm war ich bereits mit einigen seiner Kollegen gefahren – allesamt Parade-Chauvis. Erst einmal hatte ich mich also gefreut, als dann mit Mike ein scheinbar normaler junger Mann neben mir im Auto saß. Und leider zu spät kapiert, worauf er eigentlich aus ist.
Fast immer missdeute ich solche zu persönlichen Witzchen als „Schmäh“, wie Wienerinnen und Wiener sagen, also als charmant gemeinte Sticheleien – die ich gesellschaftskonform erwidere, obwohl sie mir unangenehm sind. Im Falle von Mikes Gummi-Geschichte habe ich versucht, zur anfänglichen Oberflächlichkeit zurückzukehren, und zwar mit der verbalen Eskimorolle: „Ach, gehst du öfter mit deinem Bruder feiern?“ Aber für Menschen wie Mike, die sich viel zu früh auf einem weitaus höheren Level an persönlicher Intimität bewegen als ich, sind solche zaghaften Rettungsversuche des Gesprächs leider keine Alarmzeichen für „Ups, da habe ich wohl eine Grenze überschritten“. Sondern Zeichen der Bestätigung: „Oh, sie interessiert sich offenbar für meine Geschichte!“ Und das erzeugt meist unentwirrbare soziale Missverständnisse. Wie wurstelt man sich aus solchen Situationen wieder heraus, ohne einfach peinlich berührt das Weite zu suchen?
Zwischen panischem Festkrallen am Lenkrad und dem knappen Entkommen einer Massenkarambolage hatte ich nicht den Kopf zu einem klärenden Gespräch. Doch je länger meine Freundlichkeit anhielt, desto persönlicher wurden die Gesprächsthemen, wie etwa: „Wusstest du, dass man sich schneller verliebt, wenn man in einer Extremsituation ist? Es gibt Studien, laut denen sich eine Frau eher in einen Mann verliebt, wenn sie ihm auf einer Brücke begegnet. Das könnte man ja mit unserer Fahrstunde vergleichen. Ist ja auch eine Extremsituation.“
Habe ich im Freundeskreis von meinem Dilemma erzählt, kam die einstimmige Antwort: „Dann sag doch einfach, dass du einen Freund hast.“ Ich sehe aber nicht ein, dass der einzige Grund, warum mich jemand nicht als sexuelles Freiwild sehen sollte, der ist, dass mich schon ein anderes Männchen für sich beansprucht. Immerhin schaffe ich es doch auch, meine ungelenken Flirtversuche einzustellen, wenn ich bei meinem Gegenüber die leiseste Ankündigung von Abfuhr vermute. Außerdem impliziert dieser Spruch ja, dass ich eventuell Interesse hätte, wenn ich nicht vergeben wäre. Und selbst, wenn ich mich trotz allem zu dieser Ausrede durchringen würde, wäre es mir maximal unangenehm. Denn ich bin nicht unbedingt geschickt mit subtilen Andeutungen: „Oh, du warst letztens beim Frisör? Mein Freund, mit dem ich übrigens fest zusammen bin, hat auch Haare.“
Mit verkrampftem Lächeln und zunehmendem Unbehagen lassen sich Typen wie Fahrlehrer Mike nicht abwimmeln
Das Problem an solchen Situationen ist nicht, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll, sondern, dass ich die Situation selbst nicht thematisieren will. Wenn sich jemand Fremdes im Club ungewollt an mich heranmacht, habe ich keine Hemmungen, ihm ein klares „Nein!“ entgegenzuzischen. Aber wenn es um Menschen geht, die man zwangsläufig immer wieder sieht, kommt eine andere Dimension dazu: die Abhängigkeit. Man ist darauf angewiesen, dass man halbwegs miteinander auskommt. Gerade in Zusammenhängen wie der Fahrschule, aber auch bei der Arbeit oder in der Uni, will man sich nicht auch noch über soziale Fauxpas oder zwischenmenschliche Dramen den Kopf zerbrechen. Natürlich wäre gerade hier ein klärendes Gespräch angebracht. Bevor man sich danach aber im Fahrstuhl oder Hörsaal nur mehr verschämt anräuspern kann, entscheidet man sich lieber für Option B: lächeln und winken.
Das Blöde ist nur: Mit verkrampftem Lächeln und zunehmendem Unbehagen lassen sich Typen wie Fahrlehrer Mike nicht abwimmeln. Er hat meine verzweifelten Versuche, zur oberflächlichen Höflichkeit zurückzukehren, ja nicht einmal bemerkt. Für Dirk W. Eilert, Experte für Körpersprache, ist der Grund dafür völlig klar: „Flirten läuft hauptsächlich nonverbal ab. Im Zweifelsfall deuten wir ein verlegenes Lächeln als Flirtzeichen.“ Natürlich gibt es auch Flirts, die höflich und zurückhaltend daherkommen, aber trotzdem vom Gegenüber nicht erwidert werden. Schließlich ist zum Glück ja nicht jeder Mann ein Mike. Schrillen bei der schüchternen Essenseinladung nach der Arbeit oder der Frage nach einem Kino-Date nach der Vorlesung die Alarmglocken, muss man laut dem Experten auch hier klare Worte finden.
Eine Abfuhr – egal wie höflich – kratzt immer am Ego
Also bleibt wohl doch nichts anderes übrig als Option A: die Konfrontation. Der Experte empfiehlt, das Abfuhrgespräch auf eine möglichst lockere Art anzugehen: „Sag mal, kann es sein, dass du mich gerade anflirtest?“ Meistens klären sich solche Situationen ziemlich rasch, weil sie ja allen Beteiligten unangenehm sind. Die ernsthaftere Variante wäre: „Sei mir nicht böse, aber ich möchte das nicht, weil ...“ Eilert meint: „Ich empfehle in jedem Fall, die Sache zu begründen. Es gibt Studien dazu, die belegen, dass wir bestimmte Verhaltensweisen anderer eher annehmen, wenn wir merken, dass sie einen Grund dazu haben.“ Also zum Beispiel: Ich möchte Arbeit und Privates nicht vermischen. Oder: Ich finde dich sehr sympathisch, aber du bist nicht mein Typ. Ein Standardrezept für solche Situationen kann mir aber auch der Experte nicht geben: „Diese Gratwanderung zwischen Höflichkeit und Bestimmtheit braucht einfach Fingerspitzengefühl in der jeweiligen Situation.“
Es geht bei ungewollten Flirts also nicht unbedingt darum, sich mit einem besonders geschickten Trick aus der Situation zu retten, sondern zu lernen, dass man sagt, was man will und vor allem, was man nicht will. Zwar ist danach wahrscheinlich erst einmal betretenes Schweigen angesagt, aber das muss man wohl einfach ertragen – immerhin ist dem anderen die Situation mindestens genauso unangenehm. Eine Abfuhr – egal wie höflich – kratzt immer am Ego. Testen konnte ich diesen neuen sozialen Mut allerdings nicht, da ich nach acht Fahrstunden feige den Fahrlehrer gewechselt habe – das wäre dann übrigens Option C.
Hinweis: Dieser Text erschien zum ersten Mal am 9.10.2017 und wurde am 24.2.2021 nochmals veröffentlicht.