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In vier Schritten gegen das Lockdown-Fernweh

Kann die Badewanne wirklich im dem Meer konkurrieren? Unser Autor hat es versucht.
Collage: jetzt / Fotos: Domenico Daniele, Danny Howe, Unsplash / Freepik

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Das Display strahlt ins dunkle Zimmer. Ich habe eine neue Nachricht von „Giovanni_PALERMO“. Es ist früh. Es dauert, bis mein Hirn den Namen und einen Urlaub in der sizilianischen Hafenstadt zusammenbringt. Giovanni vermietete mir damals sein Apartment, eine Altbauwohnung ohne Klimaanlage über einem Ramsch-Shop, der gefälschte Fußballtrikots verkauft. Von seinem Balkon sah ich zehn Tage auf das Meer. Bei der Schlüsselabgabe log ich, dass ich im nächsten Sommer wiederkommen würde. Si, naturalmente, sagte ich. Dann kam die Pandemie.

Sein Text ist auf italienisch. Er fragt, ob der Boiler oder die Schwellung, da ist der Translater unschlüssig, heute repariert werde. Außerdem will er wissen, wie es dem „dicken Bruno“ so gehe. Er hat den falschen Chat erwischt. Wohnung und Hund gehören einer anderen Person. Trotzdem stelle ich mir vor, wie Giovanni die Nachricht, zwischen den Palazzos der Altstadt schlendernd, in sein Motorola tippt. Ich sehe ihn am Strand, wie die Wellen an ihm brechen. Ich erinnere mich, wie ich mit einem aufblasbaren Krokodil dort knietief im Wasser stand und will ins nächste Flugzeug steigen. Wie so oft in den vergangenen Wochen habe ich diesen Fluchtreflex, wie so oft im während der Pandemie habe ich Fernweh. Das Zimmer schrumpft um mich. Palermo, jetzt, sofort. Da das derzeit doch unvernünftig wäre, muss ich Alternativen finden, um die Sehnsucht nach fremden vier Wänden zu lindern. Leider habe ich an diesem Morgen die vage Vermutung, eine Diashow mit Urlaubsschnappschüssen und Adriano Celentanos größte Hits werden nicht ausreichen. Es ist sieben Uhr in der Früh, im falschen Bett, im falschen Land.

Also versuche ich, aus meiner Wohnung heraus mein Fernweh anders zu bekämpfen – in vier Schritten:

 

1. Die Traumreise

Nein, keine traumhafte Reise, eine Reise im Traum. Auch wenn ich mich nicht als achtsamen Typen beschreiben würde, lasse ich es auf den Versuch ankommen. Eine geführte Meditation in die Bergwelt ist ein neuer Ansatz, rede ich mir ein. Und mache mir etwas vor: im YouTube-Video treibt mich eine „holistische Wellness-Expertin“, die ihre Chakren im Griff zu haben scheint, hinauf zum Gipfel einer Gebirgskette. Im Video sieht man sie nicht, sondern hört sie nur. Wie bei einer Entspannungs-CD beschreibt sie mit ihrer sehr sanften, sehr sensiblen Stimme die Umgebung und den Weg, der theoretisch vor mir liegt. Sie will, dass ich den Nabel „zur Wirbelsäule hochziehe“. Dazu bin ich körperlich nicht in der Lage, selbst wenn ich wollte. Überforderung und – ehrlich gesagt – auch ein gewisser Widerwille machen sich bei mir breit. Als sie von „heilenden Tönen des Waldes“ schwärmt, gebe ich auf. Noch vor dem Frühstück habe ich meine Nabelmuskulatur entdeckt, die Altbauwohnung über dem Golf von Palermo aber nicht vergessen.

2.  Dolce Vita in der Badewanne

 Ja, ich habe ein besonderes Verhältnis zur Badewanne. Wenn ich könnte, würde ich Tage darin verbringen. Ich würde darin arbeiten, essen, schlafen, wenn es nicht lebensgefährlich wäre. Wenn ein Meer aus südeuropäischen Düften die Lösung für mein Fernweh bieten würde, bestünde die Möglichkeit, dass ich das Badezimmer nie wieder verließe. Vielleicht kann mich der Badezusatz mit dem Namen „La Dolce Vita“ ja aus der Wanne an den sizilianischen Strand beamen? Nun, nein. Als ich die Verpackung des Pflegebads aufreiße und das Pulver in die Wanne kippe, färbt sich das Wasser giftorange. Giftorange! Ich kann den Stöpsel am Grund nicht mehr ausmachen, es ist, als hätte man zuckersüße Limonade zu einem Tümpel aufgeschüttet. Das versprochene Duftaroma der Zypressenhaine des Piemonts kann meine Nase nicht bestätigen. Ich bin immer noch in meinem Badezimmer, Sizilien ist immer noch weit entfernt.

3.  Italienisch lernen

Was in Fernwehselbsthilferatgebern steht, kann nicht grundlegend falsch sein, hoffe ich und buche das Jahresabonnement einer Online-Sprachschule. Und, ja: tutti bene. Schnell juble ich Kindergartensätze wie „Io sono Stefano, abito a Monaco“ mit großen Handbewegungen in die Küchenzeile, als wäre ich Silvio Berlusconi und Flavio Briatore in einer Person. Wie das rollt, wie das tänzelt! Vermutlich würde auf Italienisch auch „die Kohlrübenernte in Dormhagen fiel dieses Frühjahr abscheulich aus“ klingen wie ein Dante-Monolog. Ach, buonasera, ach, buona notte. Mit jeder neuen Vokabel wächst der Drang, bei Airbnb reinzuschauen. Mein Fernweh lindert das nicht. Das Abo werde ich trotzdem behalten. Ach, buonasera, ach, buona notte.

4. Wetter-Cams

Vielleicht ist Ablenkung das falsche Manöver für mich, vielleicht muss ich mitten rein in die Sehnsucht. Andere vom Kranichgefühl Geplagte, wie man Fernweh im 19. Jahrhundert noch nannte, empfehlen mir Wetter-Cams. Überall auf der Welt haben Meteorolog*innen Kameras positioniert, die live das Wetter und das Land filmen. Ob Pirmasens oder Pero: Vom Sofa kommt man so fast überallhin. Warum also nicht nach Palermo? Ich baue den Beamer auf und drehe das digitale Mittelmeer voll auf. Und tatsächlich, für einen Augenblick vergisst mein Hirn, dass ich nicht auf Sizilien bin. Die Kamera schwenkt über den Hafen. Das Zimmer dehnt sich, wird weit. Wellen knallen an den Bug eines Kreuzfahrtschiffs. In keiner der Kajüten brennt Licht. Möwen kreisen über Buden, aus denen Einheimische einmal frittierte Meeresfrüchte verkauften. Der Strand ist menschenleer. Ich sinke in die Polster, ich atme durch. Zusammen mit den 6135 anderen Besucher*innen des Livestreams sitze ich stundenlang an der virtuellen Promenade und sehe aufs Meer. Für manche muss Urlaub ein Erlebnis sein, ein Abhaken von Tasks und Goals, Arbeit in Bermudas. Ich will Stille im Kopf. Ich will die Urlaubsversion von meinem Leben, die Urlaubsversion von mir, die in Flipflops in Bella Italia Vino Bianco schlürft. Ich suche unterwegs nicht den Sinn des Lebens, ich will Pause von der Suche.

Als die Liveübertragung später in der Nacht abbricht, schrecke ich hoch. „Offline“ flackert über das Störbild, das die Wand tapeziert. Das Fenster nach Palermo hat sich geschlossen. Die Möwen, der Hafen, die Schiffe versinken im Pixelstrudel. Vielleicht, denke ich im Dunklen, hat „Giovanni_PALERMO“ auch solche Fernweh-Phasen, vielleicht würde er gerne sehen, was außerhalb der Insel in der Welt passiert. Er muss Palermo satt haben, wie ich München satt habe, überlege ich und nehme das Smartphone. Mit den Brocken Italienisch, die ich heute gelernt habe, will ich ihm antworten, wie Postkarten Fotos der Stadt verschicken, in der ich lebe. Spezi-Flaschen in Kiosk-Kühlschränken, die Isarauen voll spazierender Menschen. Wahrscheinlich, denke ich, kann er damit aber wenig anfangen. Wahrscheinlich, denke ich, hat er mit dem Boiler oder der Schwellung und dem dicken Bruno sowieso genug zu tun. Ich lösche die Nachricht. Vielleicht erzähle ich ihm von diesem Tag besser irgendwann in Palermo, wenn wir geimpft sind und wieder reisen dürfen. Fernweh habe ich nämlich immer noch.

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