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Wieso wir Neujahr besser planen sollten
Ich kann mich nur an einen einzigen schönen Neujahrstag erinnern. Ich habe ihn mit Freund:innen in Istanbul verbracht. Wir liefen einen weiten Weg durch die sehr große Stadt zu einem Basar, aßen Gözleme und gingen ins Hamam, wo man uns den Schmutz eines ganzen langen Jahres vom Körper schrubbte. Danach fielen uns beim Tee die Augen zu und unsere Haut war sehr weich. Aber der Neujahrstag war nicht nur so gut, weil es ein Tag im Urlaub war und weil wir schöne Dinge unternahmen – er war vor allem gut, weil wir ihn geplant hatten. Basar, Gözleme, Hamam, das alles hatten wir uns fest vorgenommen, das alles zwang uns am Vormittag aus dem Bett und auf die Straße, Raki-Kopf hin oder her.
Die Menschen haben so ein Ding mit Silvester. Früh fangen sie an zu planen oder aber zu betonen, dass sie nichts planen, aus Trotz. Früh fragen sie sich gegenseitig: „Und was machst du an Silvester?“ Selbst während der Corona-Pandemie wurde Silvester zu einem Event, an dem Essen im kleinen Kreis geplant werden oder Partys via Zoom, wichtig ist, dass man etwas macht. Eine andere Frage aber, die stellt niemand: „Was machst du an Neujahr?“ Dabei ist sie ungleich wichtiger. Kein Tag will besser geplant sein als der schlimmste, der leerste Tag des Jahres.
Silvester passiert einfach. Es stößt einem zu, ganz von alleine, man muss ja nur um zwölf aus der Hautüre treten. Man kann immer irgendwo hingehen, immer ist irgendjemand irgendwo, überall Menschen, Sektgläser und Wunderkerzen, alle Bars und Clubs haben geöffnet, überall brennt Licht und es wird erst ausgemacht, wenn es draußen hell wird. Um Silvester muss man sich wirklich nicht kümmern. Es wird ja sowieso gefeiert.
An Neujahr hingegen passiert nichts, wenn man sich nicht vorher darum kümmert. Sicher gibt es Menschen, die genau das gut finden. Die es genießen, einen völlig leeren Tag zu haben, einen Tag, der noch mehr Sonntag ist als ein Sonntag, noch mehr Feiertag als andere Feiertage, weil es der Feiertag nach allen Feiertagen und nach einer langen Nacht ist. Aber wenn man nur ein ganz kleines bisschen zur Schwermut neigt (und das tun die meisten), dann kann Neujahr unerträglich sein.
Am Neujahrstag braucht man eines ganz dringend: Termine
Man wacht auf, der Körper ein einziger Festtagskater, träge und ein bisschen aufgeschwemmt, und der Tag liegt da wie die Stadt: leergefegt, still, aber überall noch der Dreck, die Reste, das achtlos Hingeworfene der vergangenen Nacht. Hinter einem der Advent und Weihnachten, die Zeit, in der man nur zu gerne „Ach, nach Silvester dann!“ sagt und alles liegen lässt. Vor einem zwei Monate Winter und die liegen gelassene Arbeit, im schlimmsten Falle gute Vorsätze, die einzuhalten man gestern noch Lust hatte, heute aber schon nicht mehr. Was soll man tun? Warten, bis es wieder dunkel wird und einen morgen endlich wieder der Wecker weckt und nicht der Durst? Rausgehen und was unternehmen, einen Spaziergang, einen Kaffee? Aber wer ist denn eigentlich schon wach außer einem selbst? Meistens nur die alte Nachbarin, meistens nicht mal der Mensch, mit dem man das Bett teilt. Alles hat zu, alles ist still, nichts bewegt sich, auch man selbst nicht.
Und genau darum braucht man am Neujahrstag eines ganz dringend: Termine. Und sei es nur „um drei ein Mal durch den Park gehen“. Hauptsache, man befestigt an dieser blanken Tagesfläche irgendeinen Knauf, etwas, an dem man sich festhalten kann, damit man nicht einfach willenlos drüber schlittert und mit den Armen rudert. Und genau darum muss man das vorher planen. Schon drei Tage im Voraus einkaufen, damit nicht der Kühlschrank leer ist, wenn man aufsteht. Schon eine Woche vorher fragen, wer in der Stadt ist am 1. Januar oder wer Lust hat auf eine heiße Schokolade. Und dann: aufstehen, mit jemandem reden, rausgehen, ganz egal. Bloß nicht einfach abwarten, bis der 2. ist.
Dass alle sich um Silvester kümmern, aber fast niemand um Neujahr, das liegt vielleicht an einem großen Fehlschluss der Menschen: Enden, denken sie, die müsse man gut durchplanen, damit sie groß und schön werden. Anfänge denken sie, die kommen dann schon von selbst. Dabei ist es doch genau andersherum. Zu Ende gehen die Dinge von ganz allein. Anfangen hingegen ist sehr viel schwerer. Dafür muss man schon etwas tun. Wenigstens durch den Park gehen. Oder ins Hamam.
Hinweis: Dieser Text erschien zum ersten Mal am 1. Januar 2015. Er wurde noch einmal überarbeitet und aktualisiert.