Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

Silvester, das wichtigste Fest

Silvester hat unser Kolumnist dieses Jahr  mit Freund:innen in Neapel verbracht – viele Jahre beging er das Fest mit seiner Familie.
Foto: privat

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Mit seiner moldawisch-jüdischen Familie hat Comedian Natan Bilga nie Weihnachten gefeiert. Aber in Deutschland kommt er nicht darum herum. In seiner Kolumne erzählt er, was die Festzeit für ihn bedeutet und wie er sie verbringt. Diesmal: Wieso Silvester für ihn besonders wichtig ist.

Ciao Ragazzi! Ich darf doch Ragazzi sagen, oder? Dieser Text entsteht in der süditalienischen Metropole Napoli. Ich sage Napoli statt Neapel, weil ich endlich als der unausstehliche Snob wahrgenommen werden will, der ich wirklich bin. Anstatt das Jahresende in der norditalienischen Metropole München zu verbringen, haben fünf meiner Freund:innen und ich uns dafür entschieden, an einen Ort zu fahren, an dem die Sonne noch scheint. Mein absolutes Lieblingsurlaubsziel hat sich da angeboten. Wir sind 15 Stunden mit dem Nachtbus gefahren. Die Fahrt war schrecklich. 

Weihnachten war für mich in diesem Jahr anders als die Jahre davor. Ich war nicht im Club wie letztes Jahr, nicht bei den Eltern einer Partnerin wie vorletztes Jahr und ich war auch nicht einfach zu Hause am Rechner wie die Jahre davor. Ich habe Nachtschichten gearbeitet, war auf Weihnachtsfeiern und auf Weihnachtsmärkten. Ich habe sogar gewichtelt. Ich glaube, wenn man als nichtchristliche Person wichtelt, fehlt für die komplette Eindeutschung nur noch der Vorteil bei der Wohnungssuche. 

Anstatt eigener religiöser Familienfeiertage wurde Silvester gefeiert

Doch Ende Dezember passiert noch viel mehr als Weihnachten: Die wichtigsten Feste für mich als Juden aus Moldawien sind Chanukka und Silvester. Chanukka natürlich, weil es das jüdische Lichterfest ist. Und Silvester, weil es in meiner Kindheit eine Art Ersatzprodukt für Weihnachten war. Klingt vielleicht abwegig. Die gängige Annahme ist ja, dass Chanukka das jüdische Weihnachten ist. Es findet im Winter statt, irgendwann zwischen Dezember und Januar, es geht viel um Kerzen und leckeres Essen und die Kinder werden beschenkt. Den Vergleich kann man natürlich ziehen. Geschenke an Chanukka gibt es aber erst seit den 1950er Jahren. Entstanden ist diese Tradition in den USA. Da wollte man verhindern, dass jüdische Kinder neidisch auf das Weihnachtsfest sind und hat sich das beliebte Schenken einfach ausgeliehen. In meiner Familie war Chanukka aber kein wichtiger Feiertag. Zum einen, weil wir den Großteil meiner Kindheit sehr säkular waren und zum anderen, weil es für mich und meinen Bruder Silvester gab.

Silvester war in meiner Familie ein Riesending. Das liegt vor allem daran, dass meine Eltern beide aus der Republik Moldau kommen – einer ehemaligen Sowjetrepublik. In dem sozialistischen Vielvölkerstaat haben viele verschiedene Religionen und Kulturen zusammengelebt. Die Ausübung dieser Religionen war aber, je nach Jahrzehnt, entweder komplett verboten oder sehr eingeschränkt. Religiöse Gruppen wurden klein gehalten und verfolgt. Anstatt eigener religiöser Familienfeiertage wurde Silvester gefeiert. Diese, zugegeben, aufgezwungene atheistische Tradition hält sich bis heute in postsowjetischen Familien. Auch meine Familie hat sich davon nicht gelöst. Für mich persönlich ist dieser Feiertag deshalb auch eher positiv besetzt. Es wird aufgetischt, alle kommen zusammen, Verwandte aus anderen Zeitzonen werden angerufen, es gibt Sonderprogramm im russischsprachigen Fernsehen und natürlich Geschenke. Viele schöne Erinnerungen. 

Zu Essen gab es bei uns immer Hering im Pelzmantel. Das ist ein Schichtsalat aus Hering, gekochten Kartoffeln und Eiern, gehackten Zwiebeln, roter Beete und viel Mayonnaise. Jetzt, wo ich das aufschreibe, klingt es nicht wirklich nach einem kulinarischen Highlight, aber wenn man es jahrelang zum Essen bekommt, findet man es irgendwann sehr lecker. Ein Highlight, das es auch verdient, so genannt zu werden, waren Butterbrote mit rotem Kaviar. Ich wusste sehr lange nicht, dass Kaviar ein sehr teurer Spaß ist. Ich wusste aber, dass es ihn nur einmal im Jahr gibt. Beim Essen und danach lief oft der Fernseher, größtenteils eher nebenbei. Viele russische Fernsehsender haben ihre eigenen Silvesterspecials produziert und ausgestrahlt: Mal eine Gala mit Promis, die singen und kleine Sketche spielen, mal komplette Musicals. Bei den Songs wurde kurz lauter gedreht und danach wieder leiser. 

Dieses Jahr habe ich mich dafür entschieden, nicht mit meiner leiblichen Familie ins neue Jahr zu starten, sondern mit meiner Wahlfamilie. Ich habe keinen Streit mit meinen Eltern, dieses Jahr hat sich ein Silvesterurlaub einfach nur sehr angeboten. Um Mitternacht wollten wir an der Piazza del Plebiscito (zu deutsch = Platz der Volksabstimmung) sein. Ein riesiger Platz unweit des Golf von Neapel. Um ihn herum befinden sich Museen, Theater und das Spanische Viertel mit seinen engen Gassen und vielen  Restaurants. Bevor wir losgegangen sind, habe ich meine  Reisegruppe mit russischer und ukrainischer Neujahrsmusik genervt. So bin ich in die richtige Stimmung gekommen. Um die Truppe zu besänftigen, haben wir noch Dinner for One geschaut und sind los zum Piazza del Plebiscito.

Hier sollte es ein großes Konzert geben. Und im Anschluss ein Feuerwerk. Wobei „im Anschluss“ eher ein Vorschlag war. Es wurde geböllert, sobald es dunkel war und es hat einfach nicht aufgehört.  Um Mitternacht ging es dann richtig ab. Deutsche, die nach Tschechien fahren, um sich extra laute Böller zu kaufen, wären hier voll auf ihre Kosten gekommen. Und vom Konzert haben wir auch nicht wirklich was mitbekommen. Abgesehen davon, waren es sehr süße 20 Minuten. Die beiden Pärchen, die dabei sind, hatten ihre ersten gemeinsamen Neujahrsküsse. Mein Single-Kumpel und ich haben uns diesen Moment aber auch nicht nehmen lassen. Es sind Tränen geflossen, es wurde eine endgültig letzte Kippe geraucht und allen voran waren wir alle dankbar. Dafür, dass wir uns dieses Jahr für diese Reise entschieden haben und dafür, dass wir diese Reise mit Menschen angetreten sind, die uns wichtig sind und die wir freiwillig Familie nennen. 

  • teilen
  • schließen