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So überwindest du die Angst vor dem Zahnarzt

Illustration: Federico Delfrati

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Als ich auf mein Frühstücksbrötchen beiße, ziept es. Etwas knirscht. Es dauert einen Moment, ehe ich mich traue, mit der Zungenspitze nachzuforschen. Dann bestätigt sich meine Befürchtung: Der linke obere Backenzahn ist – zumindest gefühlt – zur Hälfte weg. Alles in mir zieht sich zusammen. Schon vor Monaten ist mir ein kleines Loch in der Kaufläche aufgefallen. Ich ignorierte ich es, denn ein Besuch beim Zahnarzt war undenkbar.

Es ist nicht so, dass meine Zähne mir egal wären. Ich habe schlicht und ergreifend Angst. Damit bin ich in guter Gesellschaft: Statistiken zufolge hat etwa ein Fünftel der Deutschen vor jedem Zahnarztbesuch Angst. In Extremfällen kann diese Angst so ausgeprägt sein, dass die Betroffenen sich irgendwann gar nicht mehr in Behandlung begeben. Zu diesen Extremfällen zähle wohl auch ich – als mein lädierter Backenzahn sich meldet, habe ich seit über zehn Jahren in keinem Zahnarztstuhl mehr gesessen.

Als Kind war ich hier Dauergast – trotz gewissenhafter Zahnpflege. Das lag vor allem an diversen Milchzähnen, die einfach nicht ausfallen wollten, obwohl ihre Nachfolger schon fleißig von unten drückten. Mein Zahnarzt entschied kurzerhand, die störrischen Ersten zu ziehen. Dabei war er leider weder geduldig noch zimperlich. Einen bis dahin völlig unbeschadeten Zahn zerbrach er beim Ziehen gleich in mehrere Teile. Das Geräusch war schon eklig genug, aber noch schlimmer war die heftige Blutung, die beim Entfernen der Zahnsplitter einsetzte. Meine Mutter wurde bei dem Anblick mitten im Behandlungszimmer ohnmächtig. Selbst das war für den Arzt kein Grund, die Behandlung zu unterbrechen. Heute, mehr als 25 Jahre später, kann ich mich weder an sein Gesicht noch an seine Stimme erinnern, aber dieses Erlebnis hat sich eingebrannt. Von da an ging ich jedes Mal mit einem mulmigen Gefühl zum Zahnarzt. Kurz vorm Abitur hörte ich dann auf hinzugehen.

Dass ich nicht für den Rest meines Lebens ohne Zahnarzt auskommen würde, war mir natürlich klar. Doch mit jedem Jahr, das ohne Zahnprobleme verstrich, wurde das Verdrängen leichter. Nun, da die Glückssträhne ein Ende gefunden hat, will ich aber keine Zeit verlieren. Ich lasse meine Angst ausnahmsweise mal für mich arbeiten – denn noch größer als meine Angst vorm Zahnarzt ist die, mich von Schmerzen getrieben vom Erstbesten behandeln lassen zu müssen. Noch ist der Schmerz auszuhalten. Also überlege ich, welche Kriterien ein Zahnarzt erfüllen muss, damit ich mich ihm anvertrauen kann. So beginne ich zu recherchieren.

"Niemand geht gern zum Zahnarzt. Selbst ich nicht" - sagt der Zahnarzt

Erstaunlich viele Zahnärzte werben inzwischen online mit einer Spezialisierung auf Angst-Patienten, aber die Anzeigen und Webseiten lesen sich irgendwie alle gleich. Keine kann mein Vertrauen wecken. Ein Freund empfiehlt mir schließlich Doktor Christian Mucke in Berlin-Friedrichshain. Als ich das Handy zur Hand nehme, um einen Termin zu vereinbaren, zittert meine Hand. Das lasse ich die freundliche Dame am anderen der Leitung auch direkt wissen. Es ist ein erster kleiner Test: Wie reagiert das Praxisteam auf meine Ansage? Kein Problem, lautet die Antwort. Man könne auch erstmal einen Termin zum Kennenlernen ansetzen, und dann gemeinsam weitersehen. So weit, so gut.

Ein paar Tage später betrete ich zum ersten Mal seit über zehn Jahren eine Zahnarzt-Praxis. Der freundliche Empfang und die gemütliche Wohnzimmer-Atmosphäre im Wartezimmer machen es mir ein bisschen leichter. Das Warten ist hier tatsächlich angenehm. Als ich kurz darauf ins Sprechzimmer geholt werde, bin ich trotzdem nervös.

Zum Glück nimmt Herr Mucke meine Ängste ernst: Obwohl ich meinen Termin sehr kurzfristig erbeten und bekommen habe, nimmt er sich Zeit. Ich berichte erstmal ausführlich von meinen bisherigen Erfahrungen, um verständlich zu machen, warum ich solche Angst vor ihm habe. Herr Mucke hört solche Geschichten nicht zum ersten Mal. „Sowas erzählen viele“, verrät er mir später. „Meist ist da in der Kindheit irgendwas in der Richtung vorgefallen, was sich dann ein Leben lang mitschleppt.“

In meinem Fall trifft das absolut zu. Sofort erinnere mich wieder an den durchgebrochenen Zahn und meine ohnmächtige Mutter. Was mich immer wieder überrascht, ist die Angst der anderen. Ich kenne niemanden, der Angst vor einem Besuch beim Augen- oder HNO-Arzt hätte, Zahnarzt-Angst aber kann aber so gut wie jeder nachvollziehen. Viele haben ein regelrechtes Arsenal an Horrorgeschichten auf Lager. „Selbst ich gehe nicht gern zu Zahnarzt“, sagt Herr Mucke dazu. „Ich glaube, es ist das Ausgeliefertsein. Du liegst da in der Horizontalen und vor dir steht so ein vermummter Typ, der dir im Mund rumfummelt, was ja auch eine intime Zone ist. Du siehst nicht, was da passiert. Also verspannst du dich total und wartest nur darauf, dass es weh tut.“

An dieses Gefühl erinnere ich mich nur zu gut, und ich möchte es nie mehr erleben. Für mich ist klar: Mein behandelnder Arzt muss jeden Schritt vorab mit mir besprechen und mir alles so erklären, dass ich es verstehe. Sonst, das habe ich mir fest vorgenommen, stehe ich auf und gehe – notfalls auch mitten in der Behandlung. Herr Mucke hat dafür vollstes Verständnis. 

 

„Es macht einen großen Unterschied, ob du als Arzt belehrend und distanziert über dem Patienten stehst, oder ob man auf Augenhöhe miteinander spricht“, erklärt er. „Ich bin immer dafür, dem Patienten die Option zu geben, mitzubestimmen. Und wenn der noch nicht so weit ist, dann eben nicht. Dann redet man erstmal und erklärt das Ganze, und dann macht man's halt beim nächsten Mal – wenn nicht absolut Not am Mann ist.“

 

„Am Ende ist die Frage immer die gleiche: Kann der Arzt wirklich mit ängstlichen Patienten umgehen?“

 

In meinem Fall ist zum Glück noch nicht Not am Mann. Herr Mucke beruhigt mich: Der Backenzahn ist nicht, wie befürchtet, zur Hälfte weggebrochen. Allerdings hat Karies sich tief in den Zahn gegraben und ist auch in die Nervenhöhle eingedrungen. Eine Wurzelkanalbehandlung zur Entfernung des angegriffenen Nervs ist unumgänglich. Die verschieben wir aber auf die nächste Sitzung, damit ich Zeit habe, meinen ersten Zahnarztbesuch seit zehn Jahren zu verarbeiten.

 

Wir kriegen das alles hin, versichert Herr Mucke mir zum Abschied. Nur einen Tipp gibt er mir noch mit auf den Weg: Nicht googlen! Wer schon mal „Kopfschmerzen“ in die Suchmaske eingegeben hat und innerhalb von Sekunden bei „Gehirntumor“ gelandet ist, wird verstehen, warum. Ich halte mich an Herrn Muckes Rat. Ich kann es selbst kaum glauben, aber nach meinem ersten Besuch bei Herrn Mucke sehe ich der Weiterbehandlung tatsächlich entspannt entgegen. Und das soll auch so bleiben.

 

Obwohl er  mit den Ängsten seiner Patienten so souverän umgeht, bezeichnet Herr Mucke sich selbst nicht als Angst-Zahnarzt – im Gegensatz zu vielen Berufskollegen. „Es mag sein, dass es da Weiterbildungen gibt“, meint er. „aber an der Uni lernst du sowas nicht. Am Ende ist die Frage immer die gleiche: Kann der Arzt wirklich mit ängstlichen Patienten umgehen? Ist er empathisch genug?“

 

Die Stunde der Wahrheit

 

Ich kann das für mich bejahen. Nur deshalb kann ich eine Woche nach meinem ersten Termin ein weiteres Mal auf dem Behandlungsstuhl Platz nehmen. Jetzt soll der angegriffene Zahnnerv entfernt werden. Ich bin ziemlich nervös. Schließlich ist es meine erste Behandlung dieser Art. Deshalb lasse ich mir vorab alles genau erklären. In aller Ruhe zeigt Herr Mucke mir die schmalen Feilen, mit denen er den Nerv abtragen will. Mit einer von ihnen fährt er kurz über den Fingernagel, um zu demonstrieren, wie sich das gleich anfühlt. Der mechanische Reiz sei auch nach Einsetzen der örtlichen Betäubung noch spürbar, erklärt er. Schmerzen sollte die Behandlung aber nicht verursachen. Wir vereinbaren, dass ich sofort Bescheid gebe, falls es unangenehm wird. Dann wird es ernst.

 

Den Einstich der Betäubungsspritze bemerke ich kaum – eine weitere positive Überraschung. Dafür ziept es heftig, als Herr Mucke den Bohrer ansetzt. Meine Hand schießt in die Höhe, und wie besprochen verstummt der Bohrer augenblicklich. Wenn ich das gespürt hätte, sei der Nerv noch vital, erläutert Herr Mucke. Um ihn zuverlässig stillzulegen, setzt er mir eine weitere Betäubungsspritze, die innerhalb weniger Minuten die komplette linke Seite meines Kiefers taub werden lässt.

 

Anschließend spüre ich nichts mehr außer dem angekündigten mechanischen Kratzen. Während Herr Mucke einen Wurzelkanal nach dem anderen reinigt, läuft im Hintergrund „Believer“ von Imagine Dragons im Radio. Ich mag das Lied und stelle zu meiner eigenen Überraschung fest, dass ich inzwischen ziemlich entspannt bin. Nachdem er das Nervengewebe entfernt hat, gibt Herr Mucke noch ein Medikament in den Zahn und verschließt ihn vorübergehend. Die Wurzelkanalbehandlung ist damit beendet – sofern der Zahn ruhig bleibt, kann in einigen Tagen die endgültige Füllung folgen. Herr Mucke ist da zuversichtlich. Und ich auch. Ich glaube, ich habe nach mehr als zehn Jahren jetzt tatsächlich wieder einen Zahnarzt.

 

Ich frage Herrn Mucke, ob er eigentlich schon viele Patienten wie mich behandelt hat. Seine Antwort fällt komplexer aus als gedacht. „Es gibt immer wieder mal Patienten, wo schon im Vorfeld klar ist, dass sie Angst haben, und die auch so reinkommen“, erläutert er. „Aber: Allen anderen siehst du es im Gesicht an. Für mich sind irgendwie alle Angstpatienten. Ich eingeschlossen.“

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