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Eine deutsche Sprayer-Crew macht einen Comic über Freiheit - in ganz Europa

Foto: ABM

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So muss das gewesen sein: Die Menschen stehen morgens am Bahnsteig, sie starren auf ihre Handys, mit denen sie sich kleine, imaginäre Faradaysche Käfige aufgebaut haben,  um ja in Ruhe gelassen zu werden. Alle sind gerade auf dem Weg zur Arbeit. Als plötzlich diese riesige Fratze mit dem fiesen Grinsen aus dem schwarzen Tunnel herauskommt und in den Bahnhof einfährt.  Der riesige Mädchenkopf mit den pinken Haaren, der sich comichaft vom Rest des Zugwaggons abhob, auf den ihn jemand gesprüht hatte, muss sie einfach aus ihrem alltäglichen Trott gerissen haben.

Ob das wirklich genau so war, wissen wir nicht. Was wir wissen, ist das der Mädchenkopf auf dem Zug  kein Gimmick der Marketingleute eines Großunternehmens war, keine Ausgeburt der Werbeindustrie, sondern das Werk des Sprüherverbundes ABM. Die Gruppe aus Osnabrück, von der man nicht genau weiß, wie viele Leute eigentlich dazugehören, existiert seit 2000. Seitdem taucht ihr Kürzel verteilt über den Globus auf: von den USA über Serbien bis in die Türkei.

Mit ihrem neuen Projekt »The Comag«, einem „Fanzine mit Storyline“, wie es aus den Kreisen der Gruppe heißt, haben sie etwas nie Dagewesenes geschaffen. »The Comag« erschien im Juli als limitierter Bild-Band. Es funktioniert als gesprayter Comic und als Plattform um die sonstigen Graffiti der Gruppe zur Schau zu stellen. 45 Seiten zeigen Comic-Szenen, die europaweit an Schallschutzwänden, Personenzügen, Güterwaggons, Mauern in Abrisshäusern und anderen Stellen gemalt wurden. Im Magazin zusammengefasst erzählen die einzelnen Versatzstücke eine Geschichte über Mut und Abenteuerlust. Die Hauptperson ist Angel: Das Mädchen mit dem Großen Kopf vom Bahnhof. Mit diesem Konzept haben ABM die Normen und den Egoismus im illegalen Graffiti aufgebrochen.

graffiti ABM 5
Foto: ABM
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Foto: ABM
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Foto: ABM
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Foto: ABM
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Foto: ABM

Die Suche nach Freiheit

 

Angel flüchtet vor ihrer diabolischen Mutter und begibt sich auf eine Reise voller Abenteuer – deren Schergen sind ihr dabei immer im Nacken. Das Hauptmotiv des Comics ist die Suche nach Freiheit: Einem Gefühl, das auch mit Graffiti in Verbindung gebracht wird. Illegales Graffiti sei die totale Freiheit, hört man immer wieder von Sprühern. Dabei ist Graffiti oft alles andere als frei, tolerant und fortschrittlich. Für viele der meist männlichen Sprayer ist das bloße Verbreiten eines Namens noch immer das Credo. Der muss gut oder weniger gut leserlich überall platziert werden, darf aber auch nicht mit  Bildern anderer Leuten übermalt werden, die sich den öffentlichen Raum genauso zunutze machen wollen. Dazu kommen Besitzansprüche an bestimmte Zugabstellanlagen und gut einsichtige Mauern. Neue Maler werden misstrauisch beäugt. Damit schränken sich Sprayer in ihrer mühsam erkämpften Freiheit durch die selbst auferlegten Codes der Szene ein. Die Ambition, sich von den bekannten Formen des Graffitis wegzubewegen, gibt es selten. Oft wird das schließlich als Street Art bezeichnet und als nicht authentisch abgestempelt. Eine ziemlich spießige Einstellung.

 

Leute wie Taps & Moses oder Art Inconsequence, die aus dem Raster ausbrechen und zum Beispiel mit einer zugemauerten Zugtür für Aufsehen sorgen, werden von den Traditionalisten oft nicht ernst genommen. Immer wieder entledigen sich zwar Sprüher den Normen im illegalen Graffiti und nutzen die weitläufigen Möglichkeiten des öffentlichen Raums oder des Mediums Zug für kreative Statements und abstrakte Malerei. Viele machen in Grundzügen aber lieber das, was schon seit denen ersten Tagen des Graffito auf der Tagesordnung stand: mal stumpf, mal weniger stumpf ihr Kürzel irgendwo platzieren.

 

Was hat das für einen Sinn?

 

Natürlich haben auch ABM neben ihre Comics gut leserlich das Tag der Gruppe gesetzt. Außerdem besteht die zweite Hälfte des »Comags« nur noch aus Fotografien mit gesprühten Namen von Freunden und Mitgliedern des Kollektivs und nähert sich damit wieder an die Interessen des Graffiti-Mikrokosmos an. Denn wen interessiert es, wann irgendjemand irgendwelche Buchstaben irgendwohin geschrieben hat, außer die Graffitiszene selbst? Vermutlich keinen. Doch immerhin sind ABM den Kompromiss eingegangen, Innovation zu liefern.

 

Denn mit dem Comic beantworten sie noch eine weitere Frage, die im Zusammenhang mit illegalem Graffiti oft gestellt wird: Was hat das für einen Sinn? In diesem Falle ist der Sinn die Geschichte, die für jeden interessant sein kann. Vom kleinen Mädchen über den Comic-Freak bis hin zum Sprayer. Außerdem ist Graffiti der Gegenpol zu Stadtplanern und all denen, die den öffentlichen Raum möglichst effizient gestalten wollen. Graffiti passiert autonom, meistens ohne Genehmigung. Illegal. Für ein buntes, aufgeschlossenes Stadtbild ist das wichtig. Die totale Sauberkeit braucht doch kein Mensch. 

 

Hinter „The Comag“ steht ein klares Konzept. Es zeigt: Die ganze Welt kann gleichzeitig Schauplatz eines Comics sein. ”The Comag“ ist gesprühte Globalisierung. Und es beweist, dass gesprühte Bilder durchaus eine Aussage besitzen und gleichzeitig ästhetisch sein können. Der Name selbst gerät endgültig in den Hintergrund. Dass dabei fremdes Eigentum beschädigt wird, ist die Kehrseite. Aber zeugt Kunst im öffentlichen Raum nicht gerade davon, dass es noch immer kreative Köpfe gibt, die autark von jeglicher vorgegebener Struktur und ohne Gedanken an einen möglichen Markt agieren? Solche Künstler sind neben denjenigen, die im Milliardengeschäft Kunstmarkt stattfinden, wichtig. Die Mitglieder der ABM Crew sind solche Einzelkämpfer. Mit »The Comag« schlagen sie dabei eine Brücke zwischen einer abgeschotteten Szene und der im allgemeinen nicht an illegalem Graffiti interessierten Gesellschaft.

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