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Was Knock Down the House über das amerikanische Wahlsystem erzählt
Als Filmemacherin Rachel Lears Anfang 2016 ihr neues Projekt begann, wusste sie nicht, dass sie den neuen Shooting-Star aus der US-Politik zwei Jahre lang begleiten würde. Alexandria Ocasio-Cortez war eine von vier Frauen, die sich in den Kampf gegen das politische Establishment warf und dabei von Lears gefilmt wurden. Vier Frauen, die ohne die finanzielle Unterstützung von großen Geldgebern in ein öffentliches Amt gewählt werden wollten. Vier Frauen, die nicht akzeptieren wollten, wie das politische System und die Spendengesetze in den USA den Machterhalt der immer gleichen Menschen fördert. „Knock down the House“ (auf deutsch: Frischer Wind im Kongress) ist auf Netflix zu sehen und das Zeugnis eines historischen Prozesses: Bei der Kongress-Wahl 2018 zogen mehr Frauen, politische Außenseiter und Angehörige von Minderheiten in den Kongress ein, als jemals zuvor. „Am Anfang war die grundlegende Frage: Warum ausgerechnet du? Warum glaubst du, dass du das schaffen kannst?“ erzählt Ocasio-Cortez in einer Szene und antwortet auf diese Frage: „Weil es sonst niemand macht. Die Alternative wäre, dass niemand es tut.“
Seit Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt wurde, hat sich in dem Land einiges verändert. Um alle Aspekte dieser Veränderung zu beschreiben, böte wohl selbst eine Doktorarbeit zu wenig Platz. Ein Aspekt aber ist: Die USA sind politischer geworden, die Debatten sind bei vielen Menschen fester Bestandteil des Alltags und es haben sich neue politische Bewegungen gegründet. Grassroots Politics heißt die Idee, mit gemeinschaftlicher Arbeit auf regionaler und nationaler Ebene etwas zu bewegen. Aus diesem Gedanken ist unter anderem die Organisation „Brand New Congress“ entstanden, die alle vier Frauen unterstützt, mit dem Ziel, die politische Landschaft in den Vereinigten Staaten zu verändern: Weniger privilegierte, reiche Männer, dafür mehr Menschen aus der Nachbarschaft sollen an die Macht kommen. Die Stiftung richtet sich sowohl an Republikaner als auch an Demokraten.
"Ich bin eigentlich jemand, der überhaupt nicht in der Lage sein sollte, für die Kongresswahl anzutreten"
„Es geht nicht um Demokraten gegen Republikaner, links oder rechts, sondern um oben gegen unten“, sagt Ocasio-Cortez in der Doku. In dem Film von Lears begleitet man als Zuschauer Cori Bush, eine Krankenschwester und Pastorin aus St. Louis, deren Ziel es ist, dass das Repräsentantenhaus in Missouri diverser wird. Oder Paula Jean Swearengin, eine Unternehmerin und Umweltaktivistin, die sich gegen die Ausbeutung West Virginias durch die Kohleindustrie wehrt. Oder Amy Vilela, die in Nevada antritt und dem amerikanischen Gesundheitssystem die Schuld an dem Tod ihrer 22-jährigen Tochter gibt und es deswegen ändern will. Und eben Ocasio-Cortez, die damals 28-jährige Kellnerin aus der Bronx, die sich mit Joe Crowley, einem der mächtigsten und bekanntesten Demokraten, anlegte, um für die Wahl in den Kongress nominiert zu werden.
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Alle vier Frauen haben unterschiedliche Schwerpunkte und Lebensrealitäten. Doch ihr Ansatz vereint sie. „Ich bin keine Karriere-Politikerin. Ich bin jemand, der eigentlich überhaupt nicht in der Lage sein sollte, für die Kongresswahl anzutreten. Ich war alleinerziehende Mutter und habe Essensmarken bekommen und Medicaid bezogen“, sagt Vilela. Wie ungleich die Mittel sind, mit denen die Frauen antreten, verdeutlicht Ocasio-Cortez. Crowley, ihr Gegner, sitzt seit 1999 im Kongress. Bei den letzten Wahlen hatte er keine Herausforderer. Er ist ein enger Vertrauter von Nancy Pelosi, der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses. Sein Budget für den Wahlkampf: über drei Millionen Dollar. Große Teile davon bezahlten Firmen. Auf der anderen Seite die junge Barkeeperin. Eine Quereinsteigerin, die einen Abschluss mit Auszeichnung in Wirtschaftswissenschaft und Internationalen Beziehungen hat, aber Drinks verkauft, um ihre Mutter finanziell zu unterstützen. Ihre Fundraising-Kampagne brachte ihr 200 000 Dollar ein.
"Das bin ich! Das bin ich auf den Plakaten!“
Knapp anderthalb Stunden lang begleitet man diese vier Frauen bei ihrem Kampf gegen das Establishment, sieht die Anfänge, das Klinkenputzen, das Unterschriftensammeln, sieht, wie sie sich organisieren, sich gegenseitig unterstützen, wie sie auf Podien diskutieren, Zulauf bekommen, sieht die Euphorie, die Entschlossenheit und die Verzweiflung. Denn sie scheitern. 36,9 Prozent bekam Bush, 30,2 Prozent Swearengin, Vilela nur zehn Prozent.
Es wäre ein ernüchternder Film, der eindrucksvoll von Machtlosigkeit der amerikanischen Bevölkerung gegenüber eines eingerosteten Systems erzählt. Doch der Film endet, wie er angefangen hat: mit Ocasio-Cortez. Ohne über den Ausgang der Wahl Bescheid zu wissen, fährt sie zu ihrer Wahlparty. Als sie die letzten Meter geht, nicht weiß, ob sie sich überhaupt hineintraut, erfährt sie, dass sie die Wahl gewonnen hat. Aufgeregt läuft sie in Richtung der Eingangstür, dem Türsteher, der sie aufhalten will, ruft sie zu: „Das bin ich! Das bin ich auf den Plakaten!“. Wenige Sekunden später gibt sie schon das Sieger-Interview live im Fernsehen. Wenige Monate später ist sie im Alter von 29 Jahren die jüngste Frau, die jemals in den US-amerikanischen Kongress gewählt wurde.