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Kultur in der Corona-Krise: Warum wir mehr Autokinos brauchen
Mittlerweile dürfte es auch der Letzte begriffen haben: Die Welt befindet sich in einem Ausnahmezustand. Und wir Menschen mit ihr. Einhergehend mit dieser Erkenntnis ploppen permanent Unmengen von Fragen in unser aller Köpfe auf: Wird mich das verdammte Virus auch bald treffen? Was ist mit meinen Großeltern? Werde ich trotz der Verdienstausfälle und Einsparungen nächsten Monat noch meine Miete zahlen können? Wann sehe ich endlich meine Freunde wieder? Und wann, Himmel noch eins, ist dieser ganze Spuk endlich vorbei? All diese Fragen fordern eigentlich nur eins: Ablenkung. Aber was bleibt, wenn nichts bleibt?
Schon klar: Netflix, Podcasts, ein gutes Buch – auf all das können wir nach wie vor zurückgreifen. Auch Stammtischabende über Zoom können veranstaltet werden, via Insta-Live übertragene Wohnzimmerkonzerte – all das sollte man unbedingt machen und nutzen, um in der kollektiven Separation nicht irgendwann komplett kirre zu werden. Doch ein adäquater Ersatz, um mal unter Leute zu kommen, ist das natürlich nicht. Sagen wir’s doch, wie’s ist: Das Ausgehen von Möglichkeiten kann die Möglichkeiten des Ausgehens nicht ersetzen.
Doch einen geselligen Zeitvertreib gibt es noch. Eine fast vergessene kulturelle Errungenschaft, für die man einerseits das Haus verlassen darf, die andererseits aber keine Ansteckungsgefahr bedeutet: das Autokino – die letzte Bastion der Unterhaltung, wie die Welt unlängst schrieb.
2004 gab es laut Filmförderungsanstalt noch 38 Autokinos bundesweit, im vergangenen Jahr nur noch 18
In Südkorea jedenfalls, das spätestens seit dem diesjährigen Oscar-Gewinn für die Thrillerkomödie „Parasites“ als neue Hochburg des internationalen Films gilt, erlebt das Drive-In-Kino eine Renaissance. In Seoul wurde unlängst extra ein alter Sportplatz umfunktioniert. Die Online-Tickets für die erste Vorstellung waren binnen zehn Minuten ausverkauft. Das wäre doch auch ein mögliches Modell für Deutschland, oder?
Tatsache ist: Viele reguläre Drive-In-Kinos gibt es hierzulande nicht mehr. Vor allem die steigenden Kosten und das Aufkommen von Netflix & Co. machen den Betreibern zunehmend das Leben schwer, erzählte Heiko Desch, Theaterleiter des ältesten deutschen Drive-In-Kinos in Gravenbuch, unlängst im Gespräch mit der Berliner Zeitung. 2004 gab es laut Filmförderungsanstalt noch 38 Autokinos bundesweit, im vergangenen Jahr nur noch 18. Und momentan haben einige von ihnen coronabedingt geschlossen. Aber wieso eigentlich? Das hat mit den unterschiedlich harten Verfügungen der einzelnen Länder zu tun.
Auf Erlass des Freistaats Bayern darf das Autokino in München-Aschheim derzeit nicht seinen Betrieb aufnehmen. In Bayern wird im Bundesvergleich ja bekanntermaßen härter durchgegriffen – auch um die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Auch das Autokino in Langenhessen hat keine Öffnungsgenehmigung erhalten. Das älteste deutsche Drive-In-Kino in Gravenbruch, einem Stadtteil von Neu-Isenburg, war auf Geheiß des hessischen Ministeriums ebenfalls coronabedingt zu, hat seit dem 20. April jedoch wieder geöffnet. Leider nicht rechtzeitig, um sein 60-jähriges Jubiläum zu feiern, das ausgerechnet in die Schließzeit fiel.
Doch die Drive-Ins in Essen (dort gibt es sogar zwei), Köln, Stuttgart sowie das gerade aus der Taufe gehobene Autokino in Marl bieten nach wie vor und mit regem Zulauf ein Programm – und täglich kommen neue Autokinos dazu: auf den Messe-Parkplätzen in Düsseldorf und Mönchengladbach, in Herne, in Offenburg, in Heilbronn, in Münster etc. Selbstverständlich sind deren Besuche an bestimmte Verhaltensregeln: Maximal zwei Leute pro Auto, nur Online-Tickets, keine Snackbar, eingeschränkte Sanitäranlagenbenutzung – aber damit kommen wir doch klar, oder?
Endlich mal aus der sozialen Isolation heraus und unter Leute zu kommen
Das sollte unbedingt weiter vorangetrieben werden. Warum nicht in jeder größeren Stadt eins oder besser gleich mehrere Autokinos errichten wie in Essen? Das frühlingshafte Wetter in den nächsten Tagen lädt ja geradezu dazu ein. Genug große und ungenutzte Orte dafür wie Messegelände und Parkplätze gibt es zu Genüge. Alles, was man braucht, ist ein technisch schnell aufgesetztes Online-Bezahlportal und eine große Leinwand samt Übertragungssystem. Anbieter, die sich um die technische Umsetzung kümmern, gibt es. Außerdem muss man eine UKW-Frequenz bei der Bundesnetzagentur beantragen, über die man die Tonspur in die Wagen bekommt, und die Aufführungsrechte einholen. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass die herkömmlichen Kinos laut Hauptverband Deutscher Filmtheater derzeit wöchentlich etwa 17 Millionen Euro Verlust machen, ist man dringend auf Erlösalternativen angewiesen. Herkömmliche Kinos, Autokinobetreiber und der Verband der Filmverleiher sollten sich also dringend zusammensetzen, um ein gemeinsames Modell zur Gewinnbeteiligung zu entwickeln. Bleibt noch die Frage, wer für die entstehenden Investitionskosten aufkommt.
Möglich wäre einerseits eine Bezuschussung aus den Kulturfördertöpfen der einzelnen Städte oder Länder. In der Krise sei Kultur so wichtig wie Lebensmittel, befindet immerhin der Deutsche Kulturrat – und fordert deshalb sogar staatliche Unterstützung über die Errichtung eines Kulturinfrastrukturförderfonds. Andererseits ist natürlich auch Eigeninitiative gefragt, und da bieten sich in erster Linie Crowdfunding-Projekte an. Über die einschlägigen Portale wie Startnext, Kickstarter & Co. kann aus der Bevölkerung binnen kürzester Zeit das nötige Geld zusammengetragen werden. Da kann die Gemeinschaft gleich mal unter Beweis stellen, wie viel Stärke sie besitzt.
Es wäre auf jeden Fall eine willkommene Abwechslung, endlich mal aus der sozialen Isolation heraus und unter Leute zu kommen – selbst wenn man die anderen nur durch die Autoscheibe oder den Rückspiegel sieht. Denn selbst wenn die physische Distanz bleibt, würde doch das Gemeinschaftsgefühl gestärkt. Außerdem darf man die vielen Vorteile nicht vergessen, die so ein Autokinobesuch mit sich bringt: man genießt die Intimität des heimischen Wohnzimmers, kann die Füße hochlegen, mit Chipstüten rascheln, ja sogar rauchen und den Hund mitnehmen. Besser geht’s doch fast gar nicht. Nur einen Wagen muss man natürlich besitzen. Aber zur Not kann man sich auch ein Auto von Freunden leihen. Oder die darbende Car-Sharing-Industrie unterstützen.
Daher plädiere ich mit Hochdruck für eine prompte Umsetzung unserer Idee: Stampft überall Autokinos aus dem Boden! Lasst uns wieder zusammen Zeit verbringen, uns mit sicherem Abstand nahe sein – im Schutzraum der Fahrerkabinen.