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Trailerpremiere "Lieber Leben" über Leben mit Behinderung
„254“, ist das Erste, was Ben sagt, als ihm nach einem Monat im Krankenhaus die Schläuche aus dem Hals genommen werden. Einen Monat hatte er Zeit, die winzigen Quadrate an der Deckenlampe zu zählen. Es sind 254. Einen Monat lag Ben auf dem Rücken und konnte weder sprechen, noch irgendeinen Teil seines Körpers bewegen. Nach einem Monat schemenhafter Erinnerungen und traumähnlichen Sequenzen ist „254“ das Einzige, was ihm auf die Frage „Wie fühlst du dich?“ einfällt.
Eine von vielen absurden Szenen aus dem Film „Lieber Leben“, bei denen man sich als Zuschauer nicht ganz sicher ist, ob man jetzt lachen darf oder nicht. Vor allem, weil alles genauso passiert ist. Weil der französische Regisseur Fabien Marsaud, der heute nur noch unter dem Künstlernamen Grand Corps Malade (großer kranker Körper auf Französisch) auftritt, vor genau 20 Jahren in genau dieser Rehaklinik aufwachte und sich plötzlich nicht mehr bewegen konnte. „Wir haben nichts dazu erfunden. Ich wollte nur, dass der Hauptcharakter einen anderen Namen bekommt, damit es universell bleibt. Der Film erzählt nicht nur meine persönliche Geschichte, sondern zeigt auch: Es kann jeden treffen“, sagt Grand Corps Malade. „Alle Charaktere habe ich genauso damals in der Rehaklinik kennengelernt.“
Zum Beispiel den hyperaktiven Pfleger Jean-Marie, der alle Patienten nur in der dritten Person anspricht und die täglichen 30 Minuten am Katheter anpreist, als gäbe es nichts Schöneres als einen Plastikschlauch im Hintern stecken zu haben. Oder den düsteren Steeve, der gerade eine Woche auf dem Bauch liegen muss, weil jede andere Stelle seines Körpers bereits wundgelegen ist. Die schöne Samia, die ein bisschen Licht in Bens mühsame Rehabilitation bringt. Oder den erfahrenen Farid, der schon länger im Rollstuhl sitzt und Ben erklärt, dass er von nun an froh sein kann, wenn ihn nicht die ungeschickte Pflegerin Christiane wäscht, der immer mal wieder ein Patient vom Bett fällt.
Ben, der eigentlich Profi-Basketballer werden wollte, ist von einem Tag auf den anderen einer enormen Abhängigkeit ausgesetzt. Er muss die Fernsehsendung anschauen, die ihm eingestellt wird, sich von Fremden waschen, füttern und auf die Toilette bringen lassen. Die kleinsten Bewegungen wieder zu erlernen, kostet ihn wochenlanges Training. Sein heutiges Ich, Grand Corps Malade, erinnert sich noch gut an diese Zeit: „Damals hätte ich mir nie vorstellen können, dass aus dieser Erfahrung mal ein Film wird. Mein Leben wurde von den absoluten Basics dominiert: nicht ohnmächtig werden beim Sitzen, einen Stift halten. Ich war hauptsächlich damit beschäftigt, mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen.“
„Menschen mit Behinderung sieht man viel zu selten im Fernsehen“
Ben, genauso wie Grand Corps Malade, hält nur sein Humor über Wasser. Am Telefon erzählt er seinen Freunden von sexy Stützstrümpfen und erfindet alberne Phobien für die Treffen mit der Klinikpsychologin. Eine Strategie, die auch die meisten seiner Mitpatienten teilen. Als Außenstehende wirkt das „nicht weglaufen, ja?“ der Pfleger manchmal zynisch, der Humor unter den Patienten morbide, aber er kommt der Realität sehr nahe, meint Grand Corps Malade. „Gerade an Orten, an denen Tod und Leid besonders präsent sind, gibt es einen sehr spezifischen Humor. Dieser ‚Behinderten-Humor‘ kennt keine Tabus. Man macht ständig Witze über die Behinderungen oder das Sexleben der anderen“, erinnert er sich.
Dass diese Atmosphäre für die Mehrheitsgesellschaft kaum vorstellbar ist, liegt laut Regisseur am mangelnden Kontakt. „Menschen mit Behinderung sieht man viel zu selten im Fernsehen, die wenigsten können sich vorstellen, wie die duschen, auf Toilette gehen oder eine Freundin finden“, sagt er. „Frankreich, und sicher auch Deutschland, hängen extrem zurück, was Barrierefreiheit angeht. So viele Orte sind nicht zugänglich, wenn du ein Handicap hast. Und auch, darüber zu sprechen ist tabu.“ Statt die eigene Geschichte zu dramatisieren, nutze er deshalb lieber seinen persönlichen Zugang, um mit Sehgewohnheiten zu brechen. In „Lieber Leben“ wird sichtbar, wie absurd alltäglich und außerordentlich mutig Menschen wie Grand Corps Malade mit ihren Schicksalsschlägen umgehen.
Zwischen Aquagymnastik und Motorik-Übungen vertreiben sich die Patienten den Rest der Zeit mit Rollstuhlboxen, im Aufenthaltsraum kiffen und anschließender Plünderung des Snackautomaten. Wie sie sich dabei bewegen und ihre Rollstühle manövrieren, haben die Schauspieler vor dem Dreh lange trainiert. Für den Film probten sie in genau der Klinik, in der Grand Corps Malade selbst vor 20 Jahren lag und sich mühsam an den Rollstuhl gewöhnen musste. Als einziger im Team wusste er, wie es sich anfühlt, wirklich eine Behinderung zu haben: „Es war sehr viel Arbeit, die Bewegungen der Schauspieler der Realität anzupassen“, sagt er. „Deshalb war es mir umso wichtiger, dass sie mit Menschen in Kontakt kommen, die wirklich Reha dort machen.“ Sieben Wochen lang verbrachte die Crew jeden Tag in der Klinik, diskutierte mit den echten Patienten und schaute sich deren Muster und Gewohnheiten ab. Das Ergebnis: Ein Film von großer Detailtreue und bewegender Authentizität.
Lieber Leben läuft ab 14. Dezember 2017 im Kino, den Trailer könnt ihr exklusiv bei jetzt anschauen.