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„Tote Mädchen lügen nicht“ spricht krampfhaft gesellschaftliche Probleme an, ohne sie zu lösen
(Achtung: Wenn du die zweite oder dritte Staffel der Serie nicht gesehen hast, dann hier nicht weiterlesen!)
Die Liste der Probleme, die die Netflix-Produktion „Tote Mädchen lügen nicht“ aufgreift, ist lang. Es geht um Waffengewalt, Mobbing, sexuellen Missbrauch und „Rape Culture“, Homophobie, Depressionen und Suizid. Seit Beginn der Ausstrahlung wird die Serie von vielen kritisiert, weil sie die Zuschauer*innen zwar mit extremen Themen konfrontiert, aber keinen gesunden Umgang mit ihnen vermittelt.
Kritiker wie Headspace, eine australische Organisation für psychische Gesundheit, argumentieren, besonders die ausführliche Szene von Hannahs Suizid sei für junge Menschen mit psychischen Problemen gefährlich. Netflix nahm die Kritik ernst und entfernte die Szene im Juli 2019 aus der Serie. Nun startete vergangenen Freitag die dritte Staffel, und zumindest zu Beginn der ersten Folge wird eine Triggerwarnung seitens der Schauspieler*innen eingeblendet. Doch trotz all der Kritiken wird die Handlung immer absurder, während realistische Ansätze zum Umgang mit psychischen Problemen weiterhin ausbleiben. Das ist problematisch, weil sich nicht alle Zuschauer*innen von der Handlung distanzieren können.
Jungen Mädchen wird vermittelt, sie könnten einen psychisch kranken Gewalttäter allein durch bedingungslose Liebe heilen
Hauptsächlich dreht sich die dritte Staffel um die Aufklärung des Mordes am Antagonisten Bryce, der unter anderem Hannah vergewaltigt hat. Das Problem dabei: Zwei Staffeln lang wird er als rücksichtsloser Psychopath dargestellt, als Zuschauer*in verspürt man deshalb keinen Funken Trauer über seinen Tod. Durch Rückblenden wird dann aber gezeigt, dass er sich kurz vor seiner Ermordung neu verliebt hatte. Auf einmal entwickelt er Reue für seine Taten und Empathie für seine Opfer – und das nur, weil er ein „besonderes Mädchen“ kennengelernt hat. Nicht nur ist diese Charakterentwicklung total absurd, denn wer derart gewalttätig ist, verändert sich nicht von heute auf morgen ohne eine intensive Therapie. Vor allem aber wird an junge Mädchen die völlig falsche Idee vermittelt, sie könnten einen psychisch kranken Gewalttäter allein durch bedingungslose Liebe heilen.
Die Zuschauer*innen von „Tote Mädchen lügen nicht“ sind größtenteils Mädchen und junge Frauen. Vor allem im Teenager-Alter prägen Film und Fernsehen ihr Weltbild. Nicht nur im Fall von Bryce scheint die Serie ihnen vermitteln zu wollen, dass sie ihre Probleme ohne professionelle Hilfe bewältigen können.
Im Verlauf der Serie wirkt das auch logisch: Bereits in der ersten Staffel versagen alle Erwachsenen dabei, der suizidalen Hannah zu helfen. Dementsprechend machen die Protagonist*innen jetzt alles unter sich aus. Eine Protagonistin beschließt beispielsweise, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Sie verarbeitet die Situation dann mit Hilfe eines guten Freundes. Dass Mädchen und Frauen sich in so einer Situation therapeutisch begleiten lassen können, wird nicht mal thematisiert. Die Message lautet hier: „Mit Freundschaft und Liebe kannst du alles schaffen.“ Nette Idee – aber völlig weltfremd.
Der Umgang der Serie mit psychischen Problemen ist realitätsfern
Die Problematik gipfelt im Fall des Außenseiters Tyler: Ende der zweiten Staffel wird er auf der Schultoilette brutal vergewaltigt und fährt anschließend bewaffnet zum Schulball, um dort Amok zu laufen. In letzter Sekunde wird er von seinen Mitschüler*innen davon abgehalten, die zu Beginn der dritten Staffel dann beschließen, die Polizei nicht einzuschalten und Tyler stattdessen selbst rund um die Uhr zu bewachen. Auch hier erkennt man die Realitätsferne der Serie: Denn wer sich bewaffnet auf den Weg zum Schulball macht, um dort seine Mitschüler*innen zu erschießen, der braucht nicht die Hilfe seiner Freund*innen, sondern muss in professionelle Behandlung.
Waren die Macher*innen der Serie hier nur fahrlässig? Oder möchten sie jungen Menschen tatsächlich vermitteln, dass sie im Falle eines versuchten Amoklaufes die riesige Verantwortung und psychische Belastung auf sich nehmen sollen, sich selbst um die Situation zu kümmern?
Das einzige, was in der dritten Staffel richtig gemacht wurde, ist der Handlungsstrang von Jessica. Nachdem sie zu Beginn der Serie die Vergewaltigung durch Bryce noch verdrängte, fängt sie in der zweiten Staffel an, ihn zu konfrontieren und für die Rechte von Opfern sexueller Gewalt zu kämpfen. In der dritten Staffel findet sie schließlich zurück zu ihrer eigenen Sexualität, wird Vorsitzende des Schülerrats und gründet mit anderen Opfern sexueller Gewalt eine Organisation, die sich gegen „Rape Culture“ einsetzt. Hier setzt die Serie das Zeichen, dass das Leben von Opfern sexueller Gewalt weitergehen und eine derartige Erfahrung verarbeitet werden kann.
Trotzdem ist die Art, wie „Tote Mädchen lügen nicht“ mit psychischen Problemen umgeht, realitätsfern und teilweise extrem verantwortungslos. Mittlerweile geht es anscheinend nur noch um eines: Provokation. Zumindest zu Beginn der Ausstrahlung hatte die Serie noch das durchaus gut gemeinte Ziel, über Depressionen, Mobbing und sexuelle Gewalt aufzuklären. Die Macher*innen hätten es einfach dabei belassen sollen.