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„Stranger Things“: Nostalgie als Grundlage für Progressivität
„Material Girl“ von Madonna, knallbunte Aerobic-Outfits, Vokuhila-Haarschnitte, Walkie-Talkies und natürlich jede Menge Anspielungen auf Horror-Filme aus den Achtziger-Jahren: Die dritte Staffel „Stranger Things“ ist wieder eine große (und spannende) Nostalgie-Party. Jutta Steiner, 27, hat Theater-, Film- und Medienwissenschaften in Wien studiert und ein Buch darüber geschrieben, warum dahinter mehr steckt als reines Schwelgen in der Vergangenheit. „Nostalgie im Upside Down. Das progressive Potenzial von Nostalgie in der Retro-Serie Stranger Things“ ist vor Kurzem im Büchner-Verlag erschienen.
jetzt: Hast du die neue Staffel „Stranger Things“ schon gesehen?
Jutta Steiner: Ja!
Und, was sagst du?
Ich finde, die Serie hat sich noch mal gesteigert! Es gibt ausgereifte Special Effects, tolle Settings, mehr Elemente aus Actionfilmen und viele aus Splatter- und Zombie-Filmen. Auch die Charakterentwicklung setzt sich fort. Und die neue Staffel ist wieder eine tolle Fundgrube an „Easter Eggs“ aus den Achtzigern, unter anderem mit Anspielungen auf „Terminator“, worüber ich als Österreicherin natürlich besonders schmunzeln musste. Gut finde ich auch die aktuellen Bezüge.
Welche?
Zum Beispiel die Figur des Bürgermeisters, der sehr korrupt ist und fragwürdige Verbindungen zu Russland hat. Da spiegeln sich die gegenwärtigen USA in Szenen, die in der Vergangenheit spielen. Das ist eine Besonderheit, die bei „Stranger Things“ immer wieder auftaucht.
Über dieses „progressive Potenzial“ der Nostalgie schreibst du in deinem Buch. Viele denken dabei allerdings eher an „Früher war alles besser“-Gejammere und an Rückschritt oder Stillstand statt Fortschritt.
Nostalgie hat in der Populärkultur keinen besonders guten Ruf, sie wird oft mit Phantasielosigkeit oder wenig Originalität assoziiert. Als der Begriff im 17. Jahrhundert erstmals aufgetaucht ist, galt Nostalgie sogar als schwerwiegende Krankheit. Zum Glück würde man heute nicht mehr auf die Idee kommen, einen Nostalgiker beim Netflix-Schauen mit Blutegeln oder Opiaten zu behandeln … Trotzdem haben nostalgiekritische Stimmen zu einem gewissen Teil auch heute noch recht, denn es gibt ja tatsächlich Formate, die nur eine formelhafte Reaktivierung von Vergangenem sind.
Mit der „Starcourt Mall“ kommt auch der Kapitalismus nach Hawkins. Lucas' Schwester Erica freut sich, weil sie Eiscreme mag.
Wer noch keine Smartphones hat, muss eben einen komplizierten Funkturm für die Walkie-Talkies bauen...
Tapete, Möbel, Mode: Die Retro-Setting ins „Stranger Things“ sind auch diesmal wieder sehr gelungen.
Kannst du ein Beispiel nennen?
In der Serie „Fuller House“, der Fortsetzung von „Full House“, herrschen noch immer konservative Auffassungen von Mutterschaft und Häuslichkeit aus der Reagan-Ära vor. Frauen definieren sich über ihre Rolle als Mutter oder über Beziehungen zu Männern. Und wenn DJ in einem kurzen Kleid auftaucht, wird das mit eingespielten Pfiffen kommentiert. Das lässt sich mit unserem heutigen Verständnis von Diversität und einem emanzipierten Frauenbild nicht mehr vereinbaren. Die Frage ist also immer: Wie reflektiert ist Nostalgie? Schwelge ich tatsächlich nur in der Vergangenheit und verkläre ich sie – oder übe ich auch Kritik daran?
„In Stranger Things werden bewusst queere Protagonist*innen zu Held*innen gemacht“
Und „Stranger Things“ hat diese kritische Haltung?
Genau. Zum Beispiel die Figur Nancy Wheeler: In der ersten Staffel lernen wir sie als typisches Highschool-Mädchen aus reicher Familie kennen, beliebt, gut in der Schule, meist pastellfarben und betont feminin gekleidet. Sie erinnert an Claire aus „The Breakfast Club“ (ein populärer Jugendfilm aus dem Jahr 1985, Anm. d. Red.) und scheint das typische „final girl“ zu sein: Eine Figur, die in frühen Slasher-Filmen (Horrorfilme, in denen eine Gruppe Teenager von einem Killer bedroht wird, Anm. d. Red.) den Horror überlebte, weil sie besonders tugendreich war – Teenager, die Sex hatten, promiskuitiv waren oder Alkohol getrunken haben, wurden vom Killer erwischt. Das passte auch zur konservativen Sozialpolitik der Reagan-Ära, in der Jungfräulichkeit vor der Ehe propagiert und der Zugang zu Abtreibungen erschwert wurde. Aber in „Stranger Things“ ist es dann eben Nancy, die Sex mit Steve hat, während zur gleichen Zeit Barbara, die nicht trinkt und sich nicht für Jungs interessiert, vom Monster getötet wird.
Jutta Steiner musste von einem Freund dazu überredet werden, sich „Stranger Things“ anzuschauen. Zum Glück hat er es geschafft!
Du schreibst, dass ein weiteres progressives Potenzial der Serie ihre durchweg „queeren Charaktere“ seien. Was genau meinst du damit?
Bei „queer“ denkt man oft an die sexuelle Ausrichtung, aber eigentlich bedeutet es einfach, dass jemand von normativen Vorstellungen abweicht. In „Stranger Things“ werden bewusst queere Protagonist*innen und Figuren, die es in Filmen der Achtziger kaum gegeben hat, zu Held*innen gemacht. Lucas weicht aufgrund seiner Hautfarbe ab, über seine Figur wird Rassismus mitverhandelt. Dustin ist kräftiger gebaut und lispelt aufgrund seiner Krankheit. Will wird zum Beispiel durch seine artistische Begabung und seine Vorliebe für David Bowie als queer codiert. Er entspricht keinem Männlichkeitsideal und ist darum immer wieder Bullying ausgesetzt. Obwohl seine sexuelle Orientierung auch in der dritten Staffel nur angedeutet wird, verhandelt man über diese Figur, mit welchen Intoleranzen und Feindseligkeiten LGBTQI in den Achtzigern zu kämpfen hatten. Und dieses Thema ist ja auch heute noch aktuell.
„Nostalgie muss nicht auf selbst erlebte Erfahrungen gründen“
Und Eleven, die ja ohnehin ein Sonderfall ist?
Sie tritt anfangs als androgyne Figur auf, allein durch den kurzen Haarschnitt. Und da sie ohne soziale Bindungen aufgewachsen ist, kennt sie die herrschenden Normen nicht. Eine Journalistin eines amerikanischen LGBTQI-Magazins hat geschrieben, dass sie sich sehr gut mit Eleven identifizieren kann: Die Andersartigkeit und die Suche nach Zugehörigkeit sind etwas, mit dem auch sie aufgewachsen ist, weil ihr in ihrer Jugend queere Vorbilder gefehlt haben. In der neuen Staffel macht Eleven noch mal eine Entwicklung durch: Bisher war sie immer abhängig von männlichen Figuren, zuerst von Dr. Brenner, dann von Mike und Hopper, die die Beschützer-Rolle jetzt in der dritten Staffel nur schwer ablegen können. Aber in Max findet Eleven eine Freundin, die sie dazu auffordert, sich zu emanzipieren, und die sagt: „We make our own rules.“
Und die auch Rollenklischees widerspricht.
Genau. Sie fährt wie Marty McFly auf dem Skateboard, ist nicht geschminkt und steuert das Fluchtauto. Insgesamt stehen in „Stranger Things“ die Frauen an vorderster Front, wenn es darum geht zu kämpfen. Es ist Nancy, die das Gewehr in der Hand hat, nicht Jonathan.
Du bist in den Neunzigern geboren. Wieso kannst du trotzdem nostalgisch werden, wenn du „Stranger Things“ schaust?
Nostalgie muss nicht auf selbst erlebte Erfahrungen gründen, ich kann sie auch für eine Zeit empfinden, die Kulturprodukte hervorgebracht hat, die ich toll finde. In der Wissenschaft nennt man das „historische Nostalgie“. Durch die Massenmedien ist es außerdem möglich geworden, dass wir Erinnerungen an eine Zeit haben, die vor unserer Lebenszeit liegt, sogenannte „prosthetic memories“. Über das Internet ist der Zugang zu popkulturellem Wissen heute besonders leicht und Netflix befördert den Achtziger-Hype auch selbst, weil dort viele Filme und Serien verfügbar sind, auf die „Stranger Things“ anspielt.
„Es wird versucht, eine Kapitalismus-Kritik einzuführen – und gleichzeitig gibt es wieder ziemlich viel Schleichwerbung“
Warum werden eigentlich ausgerechnet die Achtziger so gehypt?
Die Kindheit in den Achtzigern oder zumindest die Art, auf die sie dargestellt wird, ist für viele das Objekt nostalgischer Sehnsucht. Ich denke, das hat auch etwas damit zu tun, dass die Kinder der Achtziger die letzte Generation sind, die ohne Smartphones und Tablets aufgewachsen ist und für ihre Eltern nicht permanent erreichbar war. Das jüngere Publikum sehnt sich vielleicht nach mehr Freiheiten oder nach einem nicht ganz so durchstrukturierten Alltag, ohne die Omnipräsenz von Medien und Technik.
Eine Kritik an „Stranger Things“ ist, dass das ganze Retro-Getue hauptsächlich Marketing-Strategie und Geldmacherei sei.
Natürlich ist Nostalgie eine wichtige Werbestrategie und hat sicherlich zu dem großen Erfolg beigetragen. Es gibt ja eine enorme Bandbreite an Merch-Produkten, zum Beispiel den Soundtrack auf Kassette oder Schallplatte, alte Spielzeuge, aktuell sogar eine „Stranger Things“-Modekollektion. Was mich an der dritten Staffel gestört hat: In Hawkins hat eine neue Mall eröffnet, gegen die protestiert wird, weil die kleinen Geschäfte dadurch kaputtgehen. Da wird also versucht, eine Kapitalismus-Kritik einzuführen – und gleichzeitig gibt es wieder ziemlich viel Schleichwerbung und Produktplatzierung. Das finde ich nicht konsequent.
Was war eigentlich zuerst da: Deine Liebe zu „Stranger Things“ oder dein Forschungsschwerpunkt?
Ich hatte gerade angefangen, mich mit Nostalgie in den Medien zu beschäftigen, als „Stranger Things“ rauskam, und muss gestehen, dass mich ein Freund erst überreden musste, die Serie anzuschauen. Als er beschrieben hat, dass es um die Achtzigerjahre geht und es eine Mischung aus Horror, Science-Fiction, Teenager-Drama und Kinder-Abenteuer ist, mit jungen Protagonist*innen, ohne aber eine Kinderserie zu sein, habe ich mir gedacht: Wie soll das funktionieren? Ich hatte also ähnliche Zweifel wie die 15 TV-Netzwerke, die die Serie zunächst abgelehnt haben. Heute bin ich froh, dass ich nicht in deren Position war. Da würde ich mich jetzt grün und blau ärgern, denn es funktioniert ja tatsächlich sehr gut!