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Netflix: Abschiedsbrief von dem Streamingdienst
Im Bett läufts nicht mehr. Ich mache dich einfach nicht mehr an. Wenn ich im Flieger oder der U-Bahn sitze, schweifen meine Gedanken umher. Aber nicht mehr zu dir. Nein, ich scrolle auf TikTok, klicke Werbung auf YouTube weg. Sogar das ist besser als du. Es ist nicht ganz allein deine Schuld, das gebe ich zu. Beziehungen verändern sich – vor allem wenn sie so lang dauern wie unsere. 2015 haben wir uns kennengelernt, damals war ich noch fast ein Kind und Netflix & Chill nur ein Begriff.
Mein erstes Mal hatte ich mit dir. Du hast mich verführt, mit günstigen Preisen. 7,99 Euro im Monat für den Zugang zur weiten Welt. Hach, Honeymoon-Phase. Doch jetzt gibst du mir nichts mehr, du nimmst nur. Mein Geld. Meine Zeit. Früher habe ich jede freie Sekunde mit dir verbracht, bis ich gemerkt habe, wie toxisch du bist. Inzwischen finde ich mich viel zu oft im falschen Film. „Death Note“, ein legendäres Manga, besetzt du einfach mit westlichen Schauspielern, als hätte es nie eine Debatte um kulturelle Aneignung gegeben. In „365 days“ werden toxische Beziehungen, Kriminalität und Co-Dependence romantisiert. Und du beauftragst sogar noch einen zweiten Teil?!
Liebe ist nicht gleich sexuelle Anziehung, Körperlichkeiten sollten nicht ohne Zustimmung stattfinden – anders ist das in „The Kissing Booth“. Da erlebt eine Teenagerin sexuelle Übergriffe und geht dann mit dem Täter aus. Zielgruppe: Teenager. Selbst Jacob Elordi, der kochend-heiße Hauptdarsteller, kann mich nicht darüber hinwegtrösten. Wie konnten sich unsere Werte so sehr auseinander entwickeln?
Dann passierte, was in so vielen Beziehungen nach einer Weile passiert: Du hast dich gehen lassen
Familie ist dir wichtig, hast du ständig behauptet. Meine wolltest du unbedingt kennenlernen, auch wenn es nur meine Wahlfamilie war. Heute erklärst du uns zur Zweckgemeinschaft, nur weil wir kein Wlan teilen? Vor sechs Jahren hast du „Love is sharing a password“ getweetet. Heute erhebst du Aufpreis für geteilte Accounts.
Früher warst du versessen darauf, mich zu verstehen, mir jeden Gedanken von den Augen abzulesen. Du wusstest, was ich will, bevor ich es selbst tat. Oft fragtest du, ob ich noch da bin, hast mir mein Spiegelbild in deiner Mattscheibe gezeigt. Re-Assurance. Es war schon fast nervig, aber irgendwie auch süß. Damals bezeichnete dich mein Professor für visuelle Kommunikation als „Hot Shit“, weil dein Algorithmus so entwaffnend war. So ehrlich, so geheimnisvoll. Du warst sexy. Dann passierte, was in so vielen Beziehungen nach einer Weile passiert: Du hast dich gehen lassen.
Seit März willst du „schnelle Lacher“ bringen, bist damit ungefähr so charmant wie ein weiterer Til-Schweiger-Film. Denn eigentlich, sind wir mal ehrlich, ist dein neues Format nur ein Abklatsch von etwas anderem. Etwas, das schneller knallt. Doch du wirst niemals Tiktok sein – wieso also bleibst du nicht lieber authentisch? Als wir uns kennenlernten, hast du mein Leben erleichtert. Dank dir musste ich mich nicht länger mit Kinox.to, Cloudshare und Burning Series rumschlagen. Ich bin dir immer noch dankbar. Auch für die gute Zeit, die wir hatten. Du hast meine Bedürfnisse erkannt, mich gesehen, während ich minutenlang Porno-Werbung anderer Streaming-Seiten wegklickte:
„Einsam heute?“ – Mit dir nicht mehr!
„Meindirtyhobby?“ – Bist du!
„Suchst du nach Spaß?“ – Nein, dafür habe ich dich.
„Wettkredit bis zu 100 Euro!“ – Brauche ich nicht, denn du bist mein Glück. Warst es.
Und heute?
So viel ist weg von dem, was ich an dir mochte. Als Ende 2020 „Gossip Girl“ nicht zu finden war, dachte ich: Okay, ich muss dich mit deinen Misslichkeiten mögen. Dich lieben, für das, was du bist. Ein Jahr später verschwanden „How I Met Your Mother“, „Prison Break“, „Family Guy“, „New Girl“, „Sons of Anarchy“, „Der Prinz von Bel-Air“ und „Vampire Diaries“. Seit vergangenem Sommer ist sogar „Harry Potter“ weg. Es ist okay, sich zu verändern. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass der Fall so tief war. Wie du mich umgarnt hast, die Mühe, die du dir gabst. Deine Titel waren Gedichte für mich:
„All Inclusive, Paris kann warten“, „Weil es dich gibt“, „Alles Geld der Welt“, „Dead to Me“, „Sex und Liebe in aller Welt“, „Nicht jeder Prinz kommt auf dem Pferd“, „Mein Weg zu dir, die Auserwählte“, „Den Sternen so nah“.
Ich glaube, alles fing mit deinem eigenen Knopf auf der Fernbedingung an
Jetzt ist davon nichts übrig. Und ich blieb zurück, immer öfter zweifelnd. Kannst du mir noch bieten, was ich brauche? Ich weiß, du hast es versucht. Du brachtest mir „Emily in Paris“, „Bridgerton“, „Stranger Things“, „Selling the OC“ und zuletzt „Wednesday“. Doch der Anspruch blieb immer öfter auf der Strecke. Warum kam seit 2019 keine neue Staffel „Black Mirror“? Wieso wirken so viele deiner Dokus reißerisch und polemisch auf mich?
Ich brauchte mehr. Jemanden, der mich versteht. Tiefgang. Du musst dir schon gedacht haben, dass ich fremdgehe, so selten wie wir uns abends sehen. Oder wolltest du es nicht wahrhaben? Ich glaube, alles fing mit deinem eigenen Knopf auf der Fernbedingung an. Seitdem denkst du, du wärst etwas Besseres. Dabei gibt es da jemand anderen, mehrere sogar. Ich habe Neue kennengelernt: Disney Plus, Amazon Prime, Wow, RTL Now und Mubi.
Bist du deshalb so unverbindlich geworden, suchst ständig nach etwas Neuem? Deine Serien cancelst du häufig nach zwei Staffeln, oft bleibt es bei einem Cliff-Hänger, der nie aufgeklärt wird. So wie „Girlboss“, „Sense8“, „Cooking with Paris“ und „Inside Job“.
Am meisten verletzt mich deine unklare Kommunikation. Mach doch einfach Schluss, statt mir irgendeine Serie von 2007 ab Staffel fünf vorzuschlagen. Oder „Raus aus der Single Hölle“ oder „Riverdale“. Du nervst mich.
Wir haben uns auseinandergelebt. Bitte versteh, wenn ich unter diesen Umständen keinen Kontakt mehr zu dir möchte. Meld dich gern, wenn du dich gesammelt hast. Wenn du weißt, was du willst. Du wirst für immer einen Platz in meinem Herzen haben, denn du warst der Erste. Aber jetzt brauche ich meine Abende für mich allein.