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Dystopische Bücher und Serien werden immer realistischer

Illustration: Katharina Bitzl

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Vater und Sohn wandern auf einer staubigen Straße Richtung Westküste. Der Himmel ist von Aschewolken verdunkelt, die Pflanzen sind tot, die meisten Tiere auch. Die beiden passieren eingestürzte Brücken, verlassene Häuser und Autos. Die wenigen anderen Menschen, die die Katastrophe überlebt haben, konkurrieren um die letzten Nahrungsmittel oder essen ihre Neugeborenen.

So beschreibt Cormac McCarthy in „The Road“ die USA nach einem verheerenden Ereignis, vermutlich einem Atomkrieg, genau wird das nie benannt. Es war lange eines meiner Lieblingsbücher. Beim Lesen war ich manchmal so gespannt, dass ich mich zwingen musste, nicht auf die nächste Seite zu linsen. Der Grusel, den ich dabei empfand, war sehr real, aber auch irgendwie wohlig. Ich lag ja in meinem gemütlichen Bett, während ich las.

Das war vor vielleicht sieben oder acht Jahren. Ich glaube, wenn ich „The Road“ heute wieder lesen würde, dann wäre der Grusel nur noch real. Weil sich die Welt um mein gemütliches Bett herum verändert hat.

Ich mochte Dystopien und postapokalyptische Geschichten eigentlich immer. Und es gab schon immer genug davon. In jüngster Zeit scheinen es aber besonders viele Filme und Serien zu sein, deren Plot mit Blick auf die Welt gar nicht mehr so unwahrscheinlich scheint. Gerade erst habe ich den Trailer zu „How It Ends“ gesehen, ein von Netflix produzierter Film, in dem eine nicht näher benannte Katastrophe die Welt ins Chaos stürzt und ein Verteilungskampf beginnt. In der Serie „Occupied“ aus dem Jahr 2015 wird Norwegen von Russland besetzt, weil es als Reaktion auf den Klimawandel den Gas- und Ölhandel eingestellt hat. „Black Mirror“ erzählt Folge um Folge Dystopien einer digitalisierten Welt und „3%“  von einer Welt, in der nur noch drei Prozent der Bevölkerung im Wohlstand leben. In „Bad Banks“ brechen Krawalle aus, weil gierige Investmentbanker eine Finanzkrise provoziert haben. In der Arte-Miniserie „Stadt ohne Namen“ werden die Menschen, die verarmt sind, durch eine hohe Mauer von den Wohlhabenden abgeschirmt.

In der Literatur sieht es kaum anders aus. Im Roman „American War“ herrscht im Jahr 2075 in den USA ein Bürgerkrieg. Und in der Vorschau auf den Bücherherbst fällt direkt auf, dass diesmal besonders viele pessimistische Blicke in die Zukunft geworfen werden. „Die Hochhausspringerin“: eine totalitäre Gesellschaft der Selbstkontrolle. „Der Platz an der Sonne“: Europäer fliehen aus dem verarmten Europa nach Afrika. „Troll“: Europa ist gespalten, in Diktaturen steuern Trolle die öffentliche Meinung mit Fake News. Und so weiter.

 

Ich lese und schaue all das mit dem „So könnte es bald aussehen“-Gedanken im Hinterkopf

Ich merke, wie ich all das nicht mehr unbeschwert anschauen oder lesen kann. So wie ich auch „The Road“ heute anders lesen würde. Mit diesem „So könnte es bald aussehen“-Gedanken im Hinterkopf. Anstatt mich in wohligen Grusel oder Spannung zu versetzen, ziehen mich diese Geschichten heute runter – und machen mir ein schlechtes Gewissen. Weil es seit Wochen nicht geregnet hat und eine Zugfahrt durch Deutschland gerade auch immer ein Panorama vertrockneter Felder und verdorrter Wiesen ist. Weil Insekten und Singvögel sterben. Weil vielerorts Wälder brennen, während andernorts Starkregen fällt. Weil Klimaforscher vor einer „Heißzeit“ warnen und damit vor einer „Welt, die anders ist, als alles, was wir kennen“. Weil weltweit so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg, Verfolgung und Armut sind wie noch nie. Weil wohlhabende Menschen sich dagegen wehren, diese Menschen aufzunehmen. Weil unsere Städte vom Geld zerfressen werden und die Gesellschaft so gespalten wird.

Dystopien sind spannende Gedankenexperimente, wenn man optimistisch ist. Aber sie sind schreiende Warnungen, wenn man pessimistisch ist. Und gerade gibt es  anscheinend so viele Gründe, pessimistisch zu sein, dass Serien und Filme fast nur noch wie Warnungen daherkommen.

Wie niedlich erscheinen da im Vergleich die Neunziger, als „Katastrophenfilm“ vor allem bedeutete, dass sich jemand irgendwelche Bedrohungen durch Aliens („Independence Day“), Asteroiden („Armageddon“) oder Kometen („Deep Impact“) ausgedacht hat, nur, damit hinterher jemand ausrechnen konnte, wie unwahrscheinlich es ist, dass ein Felsbrocken aus dem All die Erde trifft. Und es gibt sicher filmische Gründe, warum „Independence Day: Die Wiederkehr“ im jahr 2016 gefloppt ist – aber vielleicht hatte es auch damit zu tun, dass der Film auf einer Erde spielt, die von Aliens fast zerstört wurde. Das wirkt nämlich extrem lächerlich, wenn wir gerade sehen können, wie wir die Erde selbst zerstören, ganz ohne Hilfe von Aliens. Roland Emmerich hätte vermutlich lieber da weitermachen sollen, wo er 2004 mit „The Day After Tomorrow“ aufgehört hat – da waren nämlich die Menschen schuld an der Apokalypse.

Klar, es gab schon immer Dystopien, die mit einem scharfen Blick auf vergangene oder gegenwärtige Entwicklungen entstanden sind und darum realistischere Szenarien entworfen haben als irgendwelche Science-Fiction-Blockbuster mit Aliens. Blöd nur, dass sogar diese Geschichten heute zum Teil noch realistischer geworden sind. Der Dystopie-Klassiker „1984“, Erstveröffentlichung 1949, wurde Anfang 2017, nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, auf einmal zum Bestseller. Ein „Wahrheitsministerium“, das Fakten umschreibt? Eine vereinfachte Sprache, um kritisches Denken zu unterbinden? Klingt so, als hätte der narzisstische und verlogene US-Präsident schon einen Plan dafür in der Schublade.

Ein fanatisch religiöses Amerika, in dem Frauen unterdrückt werden, erscheint gar nicht mehr so unwahrscheinlich

Und die Serien-Adaption von „The Handmaid’s Tale“ basiert zwar auf Margaret Atwoods Roman aus dem Jahr 1985 und war zu Produktionszeiten ganz und gar nicht als politisches Statement gemeint – ist aber nach der US-Wahl 2016 automatisch zu einem geworden. Denn ein fanatisch religiöses Amerika, das von Männern regiert wird und in dem Frauen unterdrückt werden, erscheint gerade gar nicht mehr so unwahrscheinlich.

Vergangenes Jahr habe ich „Blade Runner 2049“ im Kino angeschaut, das Sequel des postapokalyptischen Films aus den Achtzigerjahren. Der erste „Blade Runner“ spielt im Jahr 2019, darin sind die Städte versmogt, überbevölkert und seelenlos (also ungefähr so, wie manche Städte im Jahr 2018). Für den neuen Film wurden aktuelle Entwicklungen berücksichtigt und darum wird auch die Welt jenseits der Städte gezeigt – von der 2049 nicht mehr viel Gutes übrig ist. Los Angeles wird durch einer riesige Mauer vor dem extrem hohen Meeresspiegel geschützt. Es gibt Müllhalden, so groß wie Großstädte. Und ansonsten: verdorrtes, karges Land. Und einen einzigen, toten Baum. Ich habe den Film geliebt – aber die Kamerafahrt über die Landschaft hat mich unendlich traurig gemacht. Weil die Welt bald so aussehen könnte. Und unter anderem ich daran schuld bin.

Serien, die auch sehr realistisch wären (wenn es sie denn gäbe):

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