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Pflege: Mira musste als Jugendliche ihre Mutter pflegen und wurde krank davon
Als sie das Brüllen ihres Stiefvaters hörte, sortierte Mira (Name geändert) im Hausflur gerade Prospekte, um sie später am Nachmittag für ihren Nebenjob zu verteilen. Es war ein Tag im September 2011. Mira war genervt, sie konnte ihren Stiefvater nicht leiden. Noch weniger konnte sie es leiden, wenn er auf diese herrische Weise nach ihr rief, weil er wieder irgendwas wollte. „Mira, komm her! Komm sofort her!“, schrie er. In der Mietswohnung schob der verunsicherte Erwachsene das damals 15-jährige Mädchen Richtung Badezimmer. „Mama saß halbnackt auf dem Toilettendeckel, hing mit dem Arm über dem Waschbecken. Sie war nicht ansprechbar“, erinnert sich Mira heute.
Sie rief den Notruf, der sie am Telefon anwies, ihre Mutter auf den Fußboden zu legen. Mira zögerte. Sie wollte den nackten, reglosen Körper ihrer Mutter, nennen wir sie Gloria, nicht einfach so auf die kalten Fliesen legen. Sie wollte ihr etwas anziehen, bevor die Sanitäter kamen. „Sie war immer eine starke, unabhängige Frau. Ich wollte in diesem Moment wohl ihre Würde bewahren“, sagt Mira später. Als sie ihre Mutter dann doch auf den Fußboden legte, versuchte sie über die schweren Beine noch eine Jogginghose zu streifen. Doch vorher traf der Notarzt ein.
Minderjährige müssen den Pflegenotstand ausgleichen
Das Leben der bis dahin unabhängigen Gloria und ihrer Tochter änderte sich an diesem Tag für immer. Im Krankenhaus wurde ein Schlaganfall diagnostiziert. Die 47-Jährige konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr laufen. Der Speichel musste ihr mit Hilfe einer Trachealsonde abgesaugt werden, weil sie nicht schlucken konnte. Sie trug einen Katheter, weil sie nicht mehr auf die Toilette gehen konnte. Während eines monatelangen Reha-Aufenthalts musste sie diese Dinge wieder neu lernen.
Sie teilte sich mit, indem sie mit zittriger Hand auf einen Zettel schrieb. Einmal schrieb sie, dass der Notfallknopf an ihrem Bett nicht immer funktioniere. An diesem Tag besuchte Mira ihre Mutter zum ersten Mal in der Rehaklinik, die zweieinhalb Stunden Autofahrt von ihrer Heimat entfernt war. Als sie die Worte ihrer Mutter las und realisierte, was das für Folgen haben könnte, wuchs sie über sich hinaus. Die Minderjährige forderte, den Leiter der Klinik zu sprechen und verlangte einen sofortigen Austausch der Geräte. Sie sprach das aus, was ihre Mutter in dem Moment nicht sagen konnte.
In dieser Zeit lernte die Schülerin nicht nur, in Diskussionen mit Erwachsenen standhaft zu bleiben, sondern auch, wie die Waschmaschine funktionierte. Sie kochte, sie putzte und biss sich an den Mathehausaufgaben die Zähne aus, bei denen ihr sonst immer ihre Mutter geholfen hatte. Mira wurde eines von mittlerweile 480.000 Kindern und Jugendlichen im Alter von zehn bis 19 Jahren in der Bundesrepublik, die laut einer Studie der Universität Witten/-Herdecke ein Familienmitglied pflegen und dadurch auf eine psychische Belastungsprobe gestellt werden.
Im Jahr 2019 blieben laut Gesundheitsministerium allein im Fachbereich der Altenpflege 25.000 bis 30.000 Stellen unbesetzt. Das Ministerium gibt auch an, dass derzeit 3,3 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig sind – Tendenz steigend. Die Kinder sind oft die stillen Helfer der pflegebedürftigen Angehörigen, die den Notstand ausgleichen müssen.
Sabine Metzing hat die Studie der Universität Witten/-Herdecke geleitet. Die Professorin betont, dass die Dunkelziffer der pflegenden Minderjährigen vermutlich noch höher sei. Je größer der Unterstützungsbedarf einer Familie ist, umso unsichtbarer wird diese für die Behörden, so auch das Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQB). Das liege daran, dass sich die Kinder häufig scheuen, konkrete Hilfe in Anspruch zu nehmen, da sie Negativfolgen für die Familie fürchten. Sie wenden sich eher an anonyme Online-Beratungsportale wie „pausentaste.de“. Sabine Metzing erklärt allerdings, dass der Kontakt zu den Online-Beratungsportalen meist einmalig sei. Sie sagt: „Betroffene Minderjährige können hier anonym ihre Verzweiflung abladen, aber es wird keine langfristige Entlastung im Alltag geboten.“
Mira wollte ihre im Rollstuhl sitzende Mutter nicht um Geld fragen
Mira fehlte in ihrer Kleinstadt in NRW das Hilfsangebot. Also dachte sie über die Pflegearbeit wie viele Kinder: „Es muss ja gemacht werden.“ Diese Haltung nehmen besonders häufig Mädchen ein, sie machen laut der Studie 65 Prozent der minderjährigen Pflegenden aus. Die Schülerin betrachtete es als ihre Pflicht, sich um ihre Mutter zu kümmern, während ihr Stiefvater im Schichtdienst arbeitete. Als Ehemann wurde er als offizielle Pflegeperson seiner Frau eingetragen und kümmerte sich um den Papierkram.
Dazu zählte auch, dass er die Finanzen der Familie verwaltete. Als Mira zum Beispiel zwei Jahre später für den Deutschleistungskurs „Der Richter und sein Henker“ kaufen wollte, bat sie ihn um die 5,98 Euro für die Schullektüre. Er gab ihr das Geld nicht. Mira war sauer, aber ihre im Rollstuhl sitzende Mutter wollte sie nicht um Geld fragen. Stattdessen zahlte sie es von ihrem Geld, das sie beim Zeitungaustragen verdiente. Sabine Metzing weiß, wie gefährlich es ist, wenn Jugendliche mit finanziellen Sorgen belastet werden: „Es besteht das Risiko, dass sie in der Schule zum Außenseiter werden, wenn sie angesagte Produkte nicht auch haben.“ Also fing Mira bald an, parallel in einer Gastwirtschaft zu kellnern. Sie wollte schließlich auch dieses weiße Iphone haben wie ihre Freundinnen.
Nach dem Aufenthalt in der Reha durfte ihre Mutter nicht allein zu Hause bleiben. Mira hatte in den nächsten Wochen ständig ein Auge auf sie. Sie hoffte, dass sie nicht stürzen würde, wenn sie sich an den Möbeln in der Wohnung entlanghangelte, um das Laufen zu üben. Mira legte sich im Kopf einen Haushaltsplan zurecht und googelte Rezepte für gesundes Essen, das schnell zuzubereiten war. Im Supermarkt erkundete sie erstmals die Putzabteilung und studierte die Rückseiten von Waschmittelpackungen, Fleckenentfernern und Kalkreinigern.
Sie wollte die Vorzeigeschülerin bleiben, weil sie die hohen Ansprüche ihrer Mutter kannte
Denn wenn die vom Pflegedienst geschickte Putzhilfe nicht ordentlich sauber machte, wischte Mira hinterher. Die Gymnasiastin wollte ihrer Mutter zeigen, dass sie die Situation im Griff hatte. Sie wollte, dass sich ihre Mutter trotz der Umstände in der Wohnung wohl fühlte. Sie wollte die Vorzeigeschülerin bleiben, weil sie die hohen Ansprüche ihrer Mutter kannte und sie nicht enttäuschen wollte. Kurz gesagt: Mira wollte stark bleiben. Wenn die Pflegekraft einmal in der Woche kam, gab es für die nun Schwerbehinderte eine schnelle Katzenwäsche. Den Rest machte Mira: Sie kniete vor ihrer Mutter, um ihr die Fußnägel zu schneiden, kämmte ihr Haar, schloss ihren BH.
Es gab Momente, in denen die Schülerin weinen wollte. „Wenn wir zum Beispiel Schwierigkeiten in dieser dummen Dusche hatten und ich Mama nicht mehr rausbekam. Der Moment war voller Verzweiflung, voller Ohnmacht“, erinnert sie sich. In der hochgestellten Dusche stand ein Plastikstuhl. Ihre Mutter musste zum Ein- und Aussteigen einen Schritt über den Rand machen. Mira hing dann zum Teil selbst in der Dusche, T-Shirt und Hose wurden nass, als sie den damals noch tauben linken Arm ihrer Mutter anhob und mit dem Duschkopf hantierte. Anstatt zu weinen, biss sich Mira auf die Lippe: „Ich wollte es nicht noch schlimmer machen. Es war eh schon unangenehm und sollte in keiner Katastrophe enden.“
Bei den Gedanken daran beißt sie sich heute wieder auf die Lippe und sagt: „„Es ist ein Unding, dass eine Teenagerin ihre Mutter waschen muss.“ Es hätte Pflegepersonal gebraucht, das sich Zeit für ihre Mutter nimmt, sie kennenlernt und eine Bindung zu ihr aufbaut. Aber dafür bleibt auch Jahre später in der Bundesrepublik keine Zeit. Stattdessen stagniert die 2019 erarbeitete „Pflegeoffensive“ der CDU und SPD: Der Pflegeberuf gilt noch immer als unattraktiv und unterbezahlt, das Werben um Pflegekräfte aus dem Ausland scheitert häufig an bürokratischen Hürden. Zurück bleiben überlastete Minderjährige und verzweifelte Angehörige. Sabine Metzing betont, wie unterschiedlich die Bedürfnisse der Betroffenen seien und empfiehlt deutschlandweite Gesundheitszentren, in denen sich Familien individuell beraten lassen können. „Der Bundesverband behinderter und chronisch kranker Eltern fordert schon seit vielen Jahren eine Elternassistenz. Betroffene fragen also nach Hilfe, um ihre Elternrolle ausführen zu können“, so die Expertin. Durch die fachliche Unterstützung könne verhindert werden, dass Kinder plötzlich zu den Erwachsenen in der Familie werden.
Für Mira war es am schlimmsten zu beobachten, dass ihre Mutter die Lebensfreude verlor. „Vor dem Schlaganfall hat sie sich Ziele gesetzt und sie konsequent verfolgt. Es kam nicht vor, dass sie etwas nicht geschafft hat“, erinnert sich Mira. Ihre Mutter wurde zu einer Frau, die sich für ihre Einschränkung schämte. Sie wollte nicht mehr rausgehen und saß manchmal im Wohnzimmersessel und weinte leise. „Sie wollte eigentlich nicht vor mir weinen“, sagt Mira. Die Schülerin ging dann selbst in ihr Zimmer und weinte heimlich. Wenn die Zimmertür wieder aufging, war von den Emotionen nichts mehr zu sehen. Sie dachte, sie dürfe keine Schwäche zeigen und müsse für ihre Mutter stark sein.
Mira funktionierte in ihrer Rolle so gut, dass auch die Lehrer keinen Handlungsbedarf sahen
Mira funktionierte in ihrer zugewiesenen Rolle so gut, dass auch die Lehrer keinen Handlungsbedarf sahen: „Sie wussten es zum Teil, aber sie haben sich nicht getraut, mit mir zu sprechen. Ich war trotzdem sehr gut in der Schule, worüber also reden?“ Sabine Metzing erklärt, dass pflegende Kinder aufgrund ihrer disziplinierten Haltung für die Lehrer oft unauffällig bleiben. Sie sagt außerdem: „Lehrern wird heutzutage mehr denn je abverlangt, es geht weit über den normalen Bildungsauftrag hinaus. Dennoch ist es wichtig, dass sie auch leistungsstarke Schüler im Blick behalten und Verständnis zeigen.“ Sie verweist auf das Berliner Projekt „echt-unersetzlich.de“, wo sich Lehrkräfte kostenlos Infomaterial zu diesem Thema beschaffen können.
Miras engste Freundinnen und Freunde wussten zwar von der Situation, aber auch sie dachten, dass Mira sie im Griff habe. Alle schienen es eher zu bewundern, wie diszipliniert sie die Last auf den Schultern trug. Auch die Eltern ihrer Freunde begriffen Mira als sehr eigenständig. Es fiel ihnen nur in manchen Situationen auf, dass sie noch keine erwachsene Frau war, sondern ein heranwachsendes Kind. Wenn es zum Beispiel um die Frage ging, wer die Freundinnen zum Kino in den Nachbarort fahre. Wenn man es Mira erlaubt hätte, wäre sie selbst hinters Steuer geklettert. Einfach, weil sie es gewohnt war, Dinge selbst zu machen. Gleichzeitig waren die Nachmittage mit ihren Freundinnen ein Ausgleich. Sogar die Vormittage in der Schule, das anschließende Volleyballtraining, die Abende in der Gastwirtschaft und das wöchentliche Zeitungsaustragen empfand sie als Zeit der Entspannung. Einfach, weil sie dann weg von zu Hause war.
Im Jahr 2015 schloss Mira ihr Abitur mit 1,2 ab und zog aus dem kleinen Dorf an der holländischen Grenze nach Münster, wo sie zu studieren begann. Doch im Oktober 2018 fiel sie in ein tiefes Loch. „Es ist wie eine starke Erkältung, nachdem man in einer stressigen Phase dauerhaft angespannt war“, sagt sie. „Es kommt einfach, man kann es nicht aufhalten.“ Allerdings war es bei ihr keine Erkältung, sondern eine schwere Depression – mit Selbstmordgedanken. Wenn sie um den Aasee joggte, kamen ihr plötzlich die Tränen. Sie biss sich wieder auf die Lippe, aber es funktionierte nicht mehr. Die Tränen liefen einfach über ihr Gesicht.
Im Erwachsenenalter sind Menschen wie Mira diejenigen, die Hilfe brauchen
Sie versuchte herauszufinden, was mit ihr los war. „Ich habe es gemacht wie immer: Die Situation analysiert und geschaut, was ich optimieren kann“, sagt Mira. „Ich wollte den Grund meiner Traurigkeit in etwas finden, das ich selbst einfach ändern konnte“, erklärt sie, aber so einfach war es nicht.
An der Universität Witten/-Herdecke wird momentan noch erforscht, wie häufig junge Erwachsene nach ihrer Rolle als pflegendes Kind selbst an starken Selbstzweifeln und einem dauerhaften Gefühl der Überforderung leiden. Sabine Metzing sagt: „Wir können zu diesem Zeitpunkt noch keine konkreten Ergebnisse nennen, es ist aber vermutlich keine Seltenheit, dass sich die jungen Erwachsenen später in psychologische Behandlung begeben.“ Die Einsicht beginne meist erst dann, wenn sie aus der pflegenden Situation rauskommen und einen neuen Lebensabschnitt beginnen.
Auch bei Mira dauerte es, bis sie sich auf therapeutische Hilfe einließ, Antidepressiva einnahm und akzeptierte, dass sie Arbeit abgeben kann und Dinge auch schieflaufen dürfen. Es erleichtert sie heute, dass ihre Mutter in den vergangenen Jahren die Fähigkeiten, die der Schlaganfall ihr nahm, wieder weitestgehend neu gelernt hat. Sie findet gut, dass die Ehe zum Stiefvater nicht hielt und ihre Mutter nun in einer barrierefreien Wohnung lebt. Durch das neue Zuhause entwickelt ihre Mutter nun eine neue Selbstständigkeit und fühlt sich weniger auf andere angewiesen. Von der Therapie hat sie ihrer Mutter allerdings nicht erzählt. Die 24-Jährige sagt noch immer: „Ich will sie nicht belasten.“