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Wenn die Prokrastination das Leben bestimmt

JoeEsco / photocase.de

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Der Anruf kommt spät, an einem Freitagabend. Eine Frauenstimme meldet sich: „Hallo, hier ist Martina (alle Namen von der Redaktion geändert), von der Selbsthilfegruppe Prokrastination. Sie hatten uns vor einigen Wochen angefragt wegen eines Besuchs. Tut mir leid, dass ich mich jetzt erst melde, aber Sie wissen ja – wir schieben Dinge gerne auf.“ Sie lacht.

Ein paar Tage später sitzen sechs Menschen um einen runden Tisch im Münchner Selbsthilfezentrum. Sie alle haben eine Sache gemeinsam: die Aufschieberei. Manche, die sonst eigentlich hier sitzen, sind nicht gekommen. Sie wollen mit niemandem außerhalb der Gruppe sprechen. Diejenigen, die gekommen sind, wirken nervös. Dabei klingt ihr Problem, das Prokrastinieren, also das ständige Aufschieben von Aufgaben, zunächst einmal gar nicht so dramatisch. Irgendwie kennt das doch jeder von sich selbst: Unangenehme Aufgaben werden selten sofort angegangen. Aber bei den sechs Menschen, die sich jeden Dienstag treffen, überschattet die Aufschieberei das ganze Leben. 

Auf den ersten Blick könnte die Gruppe unterschiedlicher nicht sein: Sandra, die 26-jährige Studentin, hat schwarzgefärbte Haare und bunte Tattoos. Neben ihr sitzt Martina, 38, klein und zierlich, sie trägt einen grauen Pullover. Alexander, der 48-jährige Gründer der Gruppe, sieht ein bisschen aus wie ein Uni-Professor – runde Harry-Potter-Brille, verwuschelte, lockige Haare und blaue Augen. Rechts von ihm sitzt Katharina, eine zarte blonde Frau Anfang 30. Außerdem ist Rita am Tisch, 60, grauer Bob, markante Brille, schick gekleidet. Und auch Bernd, der große, rundliche Mann Mitte 40, der als letzter in den Raum huscht, ist ein Prokrastinierer. Sie alle haben ihre eigene Geschichte mit der „Aufschieberitis“ und treffen sich einmal wöchentlich, um sich gegenseitig zu helfen. Als Alexander die Gruppe 2015 gründete, kannte er die „Procrastinators Anonymous“, eine Selbsthilfegruppe, die es überall in den USA gibt. In Deutschland kennt das Phänomen Prokrastination zwar fast jeder – als ernstzunehmendes Problem ist es aber den wenigsten bekannt. Das hängt zum Teil mit den Vorurteilen gegenüber Betroffenen zusammen.

Zuerst das Lernen aufschieben, dann die Klausuren

„Ich dachte früher immer, dass ich einfach faul bin. Das wurde mir auch von allen so vermittelt. Bis mich meine Psychiaterin dazu gebracht hat, zur Gruppe zu kommen. Seitdem mache ich echt Fortschritte,“ erzählt Sandra. Sie studiert und hat einen Fachwechsel, zahlreiche aufgeschobene Klausuren und noch mehr nicht besuchte Kurse hinter sich. Deshalb hat sie auch nach acht Jahren Studium immer noch keinen Abschluss in Aussicht. „Ich ärgere mich jeden Tag, dass ich diesen blöden Bachelor einfach nicht hinkriege. Aber es scheitert bei mir meistens schon an der Vorbereitung für Klausuren,“ erzählt sie. Zuerst schiebt sie das Lernen auf, dann die Klausuren – ein Teufelskreis. Außerdem hat Sandra große Probleme, Ordnung zu halten: „Früher war es mein Zimmer, jetzt ist es meine Wohnung. Dort herrscht immer absolutes Chaos.“

Das Lernen aufschieben, oder auch mal eine Klausur: Das kennen vermutlich alle, die mal Schüler*in oder Student*in waren. Wann aber beginnt das Problem zu groß zu werden? „Wenn es an die Substanz geht – finanziell oder emotional,“ sagt Alexander. Die anderen nicken zustimmend. Was bei Sandra das nicht endende Studium ist, das ihre berufliche Zukunft bedroht, hat bei ihm schon in der Privatinsolvenz geendet. 2015 wurde ihm seine Wohnung gekündigt, die Krankenversicherung hat er auch verloren. „Da war mir klar: Jetzt muss sich was ändern,“ sagt der 48-Jährige. Dabei hätte er leicht mit seinem Geld auskommen können: „Ich war selbstständig, hatte einen ziemlich lukrativen IT-Job,“ erzählt er. „Aber ich habe prokrastiniert, meinen Kunden Rechnungen zu stellen – und dann auch, meine eigenen Rechnungen zu bezahlen.“

Woran liegt es, dass einige Menschen große Probleme damit haben, unangenehme Aufgaben zu erledigen?

Stephan Förster, Diplom-Psychologe an der Uni Münster, forscht seit Jahren im Bereich der Prokrastination und behandelt Betroffene therapeutisch. Er sagt: „Psychologisch gesehen ist die Prokrastination ein erlerntes Verhalten. Es ist der Versuch, das unangenehme Gefühl, das mir eine Aufgabe oder Tätigkeit vermittelt, kurzfristig loszuwerden, indem ich etwas anderes, etwas angenehmeres mache.“ Zusätzlich können bestimmte Persönlichkeitsmerkmale oder psychische Erkrankungen mit dem ständigen Aufschieben zusammenhängen und prokrastinierendes Verhalten begünstigen. „Besonders ADHS, eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Depression oder auch eine Anpassungsstörung können mit Prokrastination einhergehen. Welches Problem dabei welches bedingt, ist allerdings oft unklar,“ erklärt Förster.

„Mach’s doch einfach!“ ist hier verboten

Wer den sechs Mitgliedern der Münchner Selbsthilfegruppe zuhört, merkt: Jeder von ihnen schiebt auf eine andere Art und Weise auf. Martina und Alexander schreiben endlose To-do-Listen, die sie nie abarbeiten. Rita macht manchmal gar nichts, starrt in die Luft und träumt vor sich hin, wenn sie eigentlich andere Aufgaben zu erledigen hätte. Andere machen Dinge, die in diesem Moment nutzlos sind. Bernd zum Beispiel erzählt, dass er manchmal dutzende Seiten pro Tag schreibt – alles andere bleibt liegen. Sandra sagt: „Ich verliere mich oft in Details. Wenn ich meine Küche aufräumen will, sortiere ich erstmal meinen Tee.“ Ein Grund für das Aufschieben kann auch Perfektionismus sein: Man setzt sich so hohe Ziele, dass man sie nie erreichen kann und dann lieber gleich aufgibt. Einige neigen zum sogenannten „Katastrophisieren“: Rita zum Beispiel malt sich einfache Arztbesuche so schlimm aus, dass ihre Angst davor immer größer wird. Andere machen genau das Gegenteil: Sie schätzen die Konsequenzen, wenn eine Aufgabe nicht erledigt wird, zu banal ein. Auch Überforderung spielt eine Rolle: Sandra beschreibt, dass ihr die Ansprüche, die die Gesellschaft, die Universität und das Umfeld an sie stellen, oft einfach zu viel werden, sodass sie kapituliert.

Wer jetzt sagen will „Mach's doch einfach!“, ist hier falsch – dieser Satz ist in der Gruppe verboten. Den hören die Mitglieder nämlich schon genug, im Alltag, von Außenstehenden, und er hilft ihnen kein bisschen. Genau das soll die Gruppe aber tun: helfen. „Hier kann ich ehrlich sein. Ich kann sagen: Leute, meine Wohnung sieht aus wie Sau. Und niemand verurteilt mich,“ erzählt Sandra. Die Mitglieder wissen auch, wie schwer schon kleine Schritte sein können: „Wenn ich ein Kapitel gelernt habe, freuen sich die anderen total mit mir. Da kommt mir niemand mit: Hättest du halt noch mehr gelernt! Kleine Erfolge werden auch akzeptiert,“ sagt Sandra.

Außerdem geben sie sich in der Gruppe gegenseitig Tipps, wie man mit der Aufschieberitis umgehen kann. Für jeden funktionieren andere Mechanismen. Sandra hilft positive Kontrolle. Sie kündigt zum Beispiel in der Gruppe an: „Heute will ich meine Küche aufräumen!“. In der nächsten Woche werden die anderen dann nachfragen, ob sie es auch wirklich gemacht hat. „Das ist eine Verbindlichkeit, die hilft,“ so Sandra. Martina benutzt die „Zwei-Minuten-Regel“, die sie in der Gruppe gelernt hat: Dinge, die man in unter zwei Minuten erledigen kann, werden sofort gemacht – und nicht erst auf eine der endlosen To-do-Listen geschrieben, die sich in ihrem Zimmer sowieso schon stapeln. Das führt zu schnellen, kurzfristigen Erfolgen, die sehr wichtig sind für Martina. Sie sagt: „Durch die Gruppe habe ich zum ersten Mal den Eindruck, es könnte sich wirklich was ändern in meinem Leben.“

Dabei helfen auch die strengen Regeln, die sich die Gruppe selbst gegeben hat. Zu Beginn des Treffens schreibt Martina eine Rednerliste, jeder darf sprechen, aber niemand muss. Erzählt wird alles: positive Erfahrungen und „Ich hab’s geschafft“-Momente, Tiefschläge und Frustrationen. „Manchmal will man sich einfach nur auskotzen und das ist auch okay,“ sagt Rita, „Wir betreiben hier das Gegenteil von Angeberei!“

Aufschieberei und Depression – was zuerst da war, weiß niemand so recht

„Gute Selbsthilfegruppen können wichtige Arbeit leisten,“ sagt auch Stephan Förster. Er lobt die Mechanismen, die die Münchner Gruppe anwendet. „Vor allem die soziale Kontrolle funktioniert für viele Prokrastinierer gut,“ so der Psychologe. Gleichzeitig betont er: „Bei einigen Menschen ist die Prokrastination meiner Meinung nach eine behandlungswürdige psychische Störung und dann ist eine professionelle Therapie sinnvoll.“ Förster setzt sich dafür ein, dass Prokrastination offiziell als psychische Störung klassifiziert wird – dann würden nämlich die Krankenkassen eine entsprechende Therapie bezahlen.

Viele Mitglieder der Münchner Gruppe waren oder sind in psychologischer Behandlung, einige kämpfen mit Depressionen. Ob das mit der Prokrastination zusammenhängt, mag hier keiner so richtig sagen. „Manchmal frage ich mich, was zuerst da war: Die Aufschieberei oder die Depression,“ sagt Martina. „Bin ich traurig, weil ich alles aufschiebe oder schiebe ich alles auf, weil ich deprimiert bin?“ Das lässt sich auch aus wissenschaftlicher Perspektive nicht grundsätzlich sagen, laut Förster gibt es allerdings Hinweise für ein erhöhtes Depressionsrisiko bei Prokrastinierenden. Die Frage zeigt, wie ernst das Problem der Aufschieberei für die Betroffenen ist. Trotzdem ist Prokrastination noch vergleichsweise wenig erforscht.

Das bedauern die Mitglieder der Selbsthilfegruppe sehr. Sie wünschen sich mehr Information – und erhoffen sich davon auch, sich selbst besser verstehen zu können. Alexander sagt: „Alle fragen, warum wir denn so viele Dinge aufschieben. Klar, dazu habe ich schon ein paar Theorien – aber so richtig erklären kann ich das selber nicht.“

Dieser Text erschien erstmals am 20.07.2017  und wurde am 17.02.2021 nochmals aktualisiert. 

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