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Warum Sportwetten vor allem junge Menschen süchtig machen

Collage: Daniela Rudolf-Lübke / Fotos: katemangostar / Freepik.com / Unsplash

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Felix* sitzt in einem gemütlichen Büro im Münchner Stadtteil Schwabing. Holzparkett, zwei Stühle, ein kleiner Schreibtisch. Seit fast einem Jahr geht er regelmäßig hier her. Eine Routine, die eine andere ersetzt hat. Eine, die fast sein ganzes Leben ruiniert hätte. Felix ist glücksspielsüchtig. Er begann schon früh damit, auf Fußballspiele zu wetten. Erst selten, dann immer öfter, schließlich krankhaft. „Als ich 1300 Euro auf ein einziges Spiel gesetzt habe, wusste ich, dass ich ein großes Problem habe“, sagt der 25-jährige BWL-Student heute. Er redet reflektiert und eloquent, sein Kleidungsstil ist gepflegt. Nichts an seinem Erscheinungsbild erinnert an das Klischeebild, das in den meisten Köpfen entsteht, wenn man an Wettsüchtige denkt.

Doch Sportwetten sind, besonders seit es Online-Wettanbieter gibt, weit verbreitet. 2018 wurden alleine in Deutschland 8,8 Milliarden Euro gewettet, doppelt so viel wie fünf Jahre zuvor. Egal ob Fußball, Tennis, Curling, Schach, ob Champions League oder Jugendfußball in Myanmar: Fast immer, wenn irgendwo auf der Welt organisiert Sport getrieben wird, kann man im Internet darauf wetten. Nicht auf irgendwelchen zwielichtigen Plattformen, sondern bei großen, bekannten Anbietern: Tipico, Bwin, betway. Von den 18 deutschen Fußball-Erstligisten hat nur ein einziger Verein keinen Wettanbieter als Premiumsponsor. Berühmte Persönlichkeiten wie Oliver Kahn sind die Gesichter der Anbieter. Und die sind überall. Egal ob im Fernsehen, in Online-Artikeln oder im Stadion: Fans können Fußball nicht mehr konsumieren, ohne ständig mit Werbung für Sportwetten konfrontiert zu werden.

Fast eine halbe Million Deutsche haben ein problematisches Verhältnis zum Glücksspiel

Für Felix begann sein Weg in die Sucht, als er 18 war. Bayern-Fan, ein fußballbegeisterter Freundeskreis, „und die Werbung fürs Wetten ist ja überall“, sagt Felix. „Ich denke, dass auch der FC Bayern so stark für Tipico wirbt, hatte einen großen Anteil daran, dass ich dachte: Das ist völlig normal, völlig ungefährlich.“

Felix’ Werdegang vom Hobby-Wetter zum Wettsüchtigen ist fast schon eine Blaupause für den Suchtverlauf vieler junger Erwachsener. „Glücksspielsucht kann eigentlich jeden treffen“, sagt Hilke Dirks vom Suchthilfeverband Blaues Kreuz in München, einer Einrichtung die seit einem Jahr Felix’ Therapeutin ist. „Aber gerade bei den Sportwetten kann man sagen, dass es eine Risikogruppe gibt: zwischen 18 und 25 Jahren, sportaffin, meist männlich“, sagt Dirks. Fast die Hälfte aller Deutschen gibt jeden Monat Geld für Glücksspiel aus. Fast eine halbe Million Menschen in Deutschland tut dies problematisch oft, eine pathologische Spielsucht haben offiziell rund 215 000 von ihnen, die Dunkelziffer dürfte deutlich darüber liegen. „Meistens bewegen sich die Spieler in einem Umfeld, wie dem Freundeskreis oder dem Fußballverein, in dem Wetten vollkommen akzeptiert sind, in dem sie sich untereinander sogar gegenseitig bestärken“, sagt Dirks.

„Manchmal habe ich mich schon umgeschaut und gefragt: Junge, was machst du hier eigentlich?“

So war es auch bei Felix. „Es war wie ein Ritual: Morgens mit den Freunden zum Frühstücken treffen. Spiele und Quoten besprechen. Dann wetten.“ Anfangs ging es Felix darum, auf seine Lieblingsmannschaft zu wetten und beim Fußballschauen noch ein bisschen Geld zu gewinnen, wie er sagt. Ein Nebenverdienst, mit dem er sich trotz seines Studentengehalts seinen Lebensstandard heben wollte: „Reisen, ein teurer Lifestyle und nebenbei Geld beiseite legen – als Student war das für mich eigentlich nicht möglich. Meine große Hoffnung waren die Sportwetten. Ich habe ab und zu auch mal richtig viel Geld gewonnen. Das Fatale ist, dass sich dieses Erfolgserlebnis dann so ins Gehirn einbrennt, dass man alles andere, die vielen Verluste, vergisst“, sagt Felix. Bald wettete er nicht nur auf Bayern-Spiele, sondern auf die ganze Bundesliga, die englische Premier League, Ligen, in denen er sich auszukennen glaubte.

Irgendwann wettete er auf die Rumänische Liga, ohne jemals auch nur ein Spiel davon gesehen zu haben, ging regelmäßig in Casinos und in Spielhallen. „Manchmal habe ich mich schon umgeschaut und gefragt: ‚Junge, was machst du hier eigentlich? Hier gehörst du doch nicht hin! Hier sind so viele Leute, denen die Sucht ihr Leben komplett ruiniert hat.‘“ Dass der Blick auf die Menschen um ihn herum auch ein Blick in seine Zukunft sein könnte, wurde Felix immer bewusster. Er löschte seine Online-Wett-Accounts, sperrte Kreditkarten, ging nur noch in Wettbüros. „Aber es hat alles nichts geholfen“, sagt Felix. Denn ganz aufhören zu wetten konnte er nicht. Zu groß war die Sehnsucht nach dem großen Gewinn. Zu stark das Vertrauen in das eigene Fußball-Fachwissen. Er redete sich ein, dass er nur noch nicht die richtige Wettstrategie gefunden hatte.

„Die meisten Wettsüchtigen warten bis zu ihrem absoluten sozialen und finanziellen Tiefpunkt.“

Besonders gefährlich an Sportwetten ist, dass die Wettenden denken, sie hätten durch ihr sportliches Fachwissen einen Vorteil – gegenüber den anderen Wettenden und den Wettbüros. Ein Vorteil, den es so nicht gibt, wie Forscher*innen der Tel Aviv University herausgefunden haben. Egal, ob erfahrener Wetter*in, fußballbegeistert oder absoluter Laie: Zwischen den Probandengruppen gab es keinen Unterschied, wie oft sie richtig tippten.

Da es eine sogenannte Hidden Addiction ist, es also kaum äußerliche Anzeichen für die Sucht gibt, werden Angehörige erst spät auf das Problem aufmerksam. Die Betroffenen holen sich auch deshalb meist erst Hilfe, wenn sie am Abgrund stehen. „Da vergehen oft mehrere Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte“, sagt Dirks. „Die meisten Wettsüchtigen warten bis zu ihrem absoluten sozialen und finanziellen Tiefpunkt. Beim Alkohol erleben wir häufiger, dass Menschen mit problematischem Konsum zu uns kommen, wenn es vielleicht gerade kippt. Das passiert beim Glücksspiel leider selten. Wir würden uns wünschen, dass Betroffene früher Beratung in Anspruch nehmen.“

„Ich habe mir Geld von meiner Großmutter geliehen. Immer wieder“

Felix erreichte seinen Tiefpunkt, als er fünf Jahre nach der ersten Wette 6000 Euro Schulden hatte. Und auch sein soziales Leben litt unter seiner Wettsucht. „Ich saß bei den Eltern meiner damaligen Freundin beim Mittagessen und wurde immer nervöser, schaute dauernd auf die Uhr: Noch eine halbe Stunde, bis das Spiel losgeht. Wie schaffe ich es, noch irgendwie eine Wette zu platzieren? Nur noch 20 Minuten, nur noch zehn. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren“, sagt Felix.

Das Geld für seine Sucht kam teilweise von überzogenen Kreditkarten, teilweise von Verwandten. „Ich habe mir Geld von meiner Großmutter geliehen. Immer wieder“, sagt Felix. Dadurch, dass er sich Geld von Verwandten leihen musste, wurde das Problem verhältnismäßig schnell offensichtlich. Die Schulden bei seiner Großmutter und seiner Mutter waren der Grund dafür, dass er sich Hilfe suchte. Seine Mutter überzeugte ihn, nach Therapiemöglichkeiten zu suchen, und er fand das Blaue Haus in München, das jährlich 200 Glücksspielsüchtige betreut. „Als ich dann das erste Mal hier in das Büro gekommen bin, war alles plötzlich viel realer. Es wie eine Erkenntnis: Ich habe wirklich ein großes Problem. Ich habe gecheckt: Junge, wenn du so weitermachst, wirst du dein Studium nicht schaffen und so wirst du auch finanziell nie wieder auf die Beine kommen“, erzählt der 25-Jährige.

Momentan läuft Felix’ zweiter Versuch, die Sucht loszuwerden

Seit knapp einem Jahr geht er nun einmal pro Woche zur Gruppentherapie, hat zusätzlich wöchentliche Einzelgespräche und ab und an Sondersitzungen. Felix hat nur seinen besten Freunden von seiner Sucht und der Behandlung erzählt. Zu groß ist die Angst vor sozialer Ächtung. „Das Thema Wettsucht wird noch immer belächelt. Viele denken, dass man einfach damit aufhören und die Sucht selbst in den Griff bekommen kann. Aber das ist definitiv nicht so“, sagt Felix. Einige seiner Freunde seien auch definitiv glückspielsüchtig, erzählt der Student. Doch in Behandlung sei kein einziger von ihnen. Zum einen nähmen sie die Sucht auf die leichte Schulter. Zum anderen, das weitaus größere Problem, gibt es fast nur in Großstädten umfassende Therapiemöglichkeiten für Glücksspielsucht. 

Momentan läuft Felix’ zweiter Versuch, die Sucht loszuwerden. Beim ersten Mal erlitt er während der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 einen Rückfall. Nun wettet er seit fast einem Jahr nicht mehr. Dirks bewertet seinen Behandlungsverlauf als sehr vielsprechend. Doch sicher sein, kann man sich nie: „Das schwierige bei der Therapie für Wettsucht ist: Es ist nicht so klar abzugrenzen, was man darf, was nicht. Darf ich mit meinem Kind Monopoly spielen? Ist ein WM-Tippspiel im Büro okay? Eine Wette unter Freunden? Wir raten von all dem ab. Am Anfang der Therapie empfehlen wir sogar, überhaupt keinen Fußball mehr zu schauen“, sagt Dirks.

“Dieses Glücksgefühl, wenn ein Wettschein aufgegangen ist, werde ich auf jeden Fall vermissen“

Auch Felix sieht sich auf einem guten Weg. Insgesamt hat er in den sechs Jahren, in denen er gewettet hat, 35 000 Euro verloren. Die Schulden bei den Banken hat er mittlerweile abbezahlt. Privat könnte das noch eine Weile dauern. Bald hat Felix seine letzte Therapiestunde. Danach wird er auf sich alleine gestellt sein. Mittlerweile schaut er wieder regelmäßig Fußballspiele, doch nur in einem Umfeld, in dem er sich sicher fühlt, das weiß, dass er ein ernsthaftes Problem hat. Doch ob er es schaffen wird, nie wieder einen Rückfall zu erleiden? Die Rückfallquote ist ähnlich hoch wie bei der Alkoholsucht.

Auch die Corona-Krise birgt ein großes Risiko, einen Rückfall zu erleiden. Während Wettanbieter durch Angebote und stärkere Werbung für ihre Online-Casinos versuchen, die Umsatzeinbußen aus dem Mangel an Sportangeboten wettzumachen, sind Langeweile, Isolation, Einsamkeit, finanzielle Engpässe durch Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust und Konflikte in Partnerschaft und Familien Risikofaktoren. „Wir gehen davon aus, dass gerade jetzt vermehrt Betroffene die Online-Glücksspielangebote nutzen“, sagt Dirks. 

„Ich finde die Vorstellung, ein Leben lang auf Glücksspiel zu verzichten, ziemlich krass. Wenn ich mir das vor Augen führe, löst das schon einiges in mir aus“, sagt Felix. Trauer? Panik? „Ja, auf jeden Fall. Ich habe so viele positive Erinnerungen ans Wetten. Dieses Glücksgefühl, wenn ein Wettschein aufgegangen ist, werde ich auf jeden Fall vermissen.“ Es ist genau dieses Gefühl, das die Süchtigen wohl nie mehr loslassen wird, das es so schwer macht, einfach aufzuhören. Ein Glücksgefühl, das sich beim ersten großen Gewinn im Kopf einnistet und einen, wenn man Pech hat, nie wieder loslässt.

Wer bei sich, Angehörigen, Verwandten oder Freunden problematisches Verhalten beobachtet, kann sich unter anderem bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dem Blauen Kreuz, Spielsucht-Therapie, oder automatisch verloren informieren.

*Felix heißt im echten Leben anders. Er hat sich diesen Namen für den Artikel gegeben, weil er negative Konsequenzen befürchtet, wenn seine Sucht öffentlich bekannt ist.

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