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Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden oft doppelt

Illustration: FDE

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Warum fällt es den wenigsten schwer zu sagen „Ich hatte einen gebrochenen Arm“, während man selten hört: „Ich hatte eine Angsterkrankung“? Obwohl vier von fünf Menschen bis in das frühe Erwachsenenalter zumindest kurzzeitig an einer psychischen Störung leiden?

Weil man eine psychische Erkrankung meist nicht unmittelbar sehen oder nachvollziehen kann, wird Betroffenen oft mit Misstrauen begegnet oder vorgeworfen, dass sie simulieren. Auch Katharina, die an einer chronischen Depression und einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, hat diese Erfahrung gemacht. Kommilitonen und sogar Ärzte stellten in Frage, ob sie wirklich krank sei, weil sie gar nicht so aussehe. „Wie muss ich denn aussehen, damit man mir glaubt, dass ich eine psychische Krankheit habe?“, entgegnet die 29-Jährige heute. Mitstudierende reagierten nach dem Motto: Wenn es nichts Körperliches ist, dann ist es ja im Grunde nichts.

„Es gibt immer wieder Versuche, den Krankheitsaspekt komplett wegzuleugnen, die Erklärungsversuche der modernen Medizin als unzureichend abzutun und den Menschen vorzuwerfen, selbst schuld an ihrer Erkrankung zu sein“, sagt Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psy­chia­trie und Psychotherapie der Charité Berlin und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN). Einem Menschen mit einer körperlichen Erkrankung, wie beispielsweise Parkinson, würde niemand vorwerfen, selbst daran schuld zu sein, während bei einer psychischen Erkrankung gerne die Schuld bei der Mutter, der Erziehung oder mangelnder Selbstdisziplin gesucht wird. Das führe zu einem geringen Selbstbewusstsein bei Betroffenen.

Schuldzuweisungen führen zu geringem Selbstbewusstsein bei Betroffenen psychischer Erkrankungen

Katharina kennt es, dass Menschen ihr die Schuld für ihre Erkrankung geben. „Ich höre ganz häufig, dass ich einfach mal positiv sein soll oder dass ich meine Probleme nicht hätte, wenn ich mich mit bestimmten Themen nicht beschäftigen würde“, erzählt sie. Auch von Ärzten habe sie schon vorgeworfen bekommen, dass sie gar nicht gesund werden wolle, als eine Therapie nicht die erwartete Wirkung zeigte. Selbst nach vielen Jahren der Psychotherapie glaubt Katharina in schweren Phasen manchmal, dass sie sich nur mehr anstrengen müsse. „Dann denke ich, vielleicht haben die anderen ja Recht, vielleicht gibt es wirklich etwas in mir, das krank sein will? Ich muss nur gesünder leben und ich muss einfach aufstehen, dann geht es mir gut. Aber ich kann dann halt nicht aufstehen“, sagt Katharina.

Psychische Krankheiten sind häufig ein mit Scham besetztes Thema, über das viele Betroffene lieber schweigen. Katharina findet es wichtig, dieses gesellschaftliche Tabu aufzubrechen. Deshalb will sie offen mit ihrer Depression umgehen und ihren Freunden davon erzählen. „Das war eine bewusste Entscheidung, gerade weil es so ein schwieriges Thema ist. Aber ich hatte auch Angst, Freunde dadurch zu verlieren“, erzählt sie. Viele ihrer Freunde konnten sich nicht vorstellen wie sich eine Depression anfühlt. Sie fragten, ob das wie Liebeskummer sei. Manche sagten zu ihr, dass sie sich nicht so anstellen soll, andere hätten schließlich auch Probleme. Es gab Freunde, die sich von ihr abwandten. Einer davon berichtete ihr später, dass er Angst gehabt habe, da mit reingezogen zu werden. Heute kann Katharina über diese irrationale Annahme, sich sozusagen anstecken zu können, nur schmunzeln. Damals hat es sie geschmerzt. Weil sie viel Ablehnung, Misstrauen und Verletzung erfuhr, verheimlichte Katharina ihre Erkrankung später.

 

„Wenn ich anderen von meinen psychischen Erkrankungen erzähle, ist das für mich wie Schwäche zeigen“

Auch Mary* kennt die Angst vor den Reaktionen der anderen, weshalb sie lange zögerte, bevor sie sich Hilfe suchte. „Wenn ich anderen von meinen psychischen Erkrankungen erzähle, ist das für mich wie Schwäche zeigen. Außerdem habe ich Angst, dass die Leute sich Sorgen machen oder etwas Falsches von mir denken“, sagt sie. Deshalb hat Mary als Jugendliche lange versucht, ihre Probleme mit sich auszumachen. Sie trank viel Alkohol, nahm Drogen und verletzte sich selbst. Als sie schließlich in eine Klinik kam, wurde Mary eine Borderline-Persönlichkeitsstörung, manische Depression, eine Posttraumatische Belastungsstörung und Schizophrenie diagnostiziert.

Wenn Mary von ihrer Schizophrenie erzählt, bemerkt sie manchmal, dass ihr Gegenüber Angst vor ihr bekommt. Wegen der Borderline-Persönlichkeitsstörung glauben einige, dass sie komplett unzurechnungsfähig sei. Wenn sie eine depressive Phase hat, wird ihr manchmal vorgeworfen, schwach zu sein oder krank zu spielen. Die Narben an den Armen habe sie, weil sie Aufmerksamkeit wolle und eine gute Mutter könne sie mit ihrer Vergangenheit sicher nicht sein – so die Vorurteile. Heute ist Mary 23 Jahre alt und hat eine fünfjährige Tochter. Sie sagt, dass sie nach langer Therapie wieder mit beiden Beinen im Leben stehe und wisse, wie sie mit ihren Krankheiten umgehen kann. Die Narben aber sind geblieben, die Vorurteile haften ihr weiter an.

„Wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung abgewertet oder ausgegrenzt wird, dann spricht man von Stigmatisierung“

So wie Mary und Katharina geht es vielen Menschen mit psychischen Erkrankungen: Sie leiden nicht nur unter den Symptomen und Einschränkungen ihrer Krankheit, sondern auch unter Stigmatisierung. „Wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung abgewertet oder ausgegrenzt wird, dann spricht man von Stigmatisierung“, erklärt Psychiater Andreas Heinz. Dieses Problem ist häufig und weit verbreitet. In einer Studie wurden in 27 Ländern Menschen mit Schizophrenie zu ihrer Erfahrung mit Diskriminierung befragt: 47 Prozent der Befragten gaben an, Diskriminierung im Umgang mit Freunden und 29 Prozent in der Arbeitswelt erfahren zu haben; 72 Prozent verheimlichten ihre Diagnose aufgrund von Angst vor Diskriminierung.

Während das Wissen über psychische Krankheiten in der Bevölkerung tendenziell zugenommen hat, haben sich die Einstellungen gegenüber vielen psychischen Krankheiten kaum verändert und gegenüber anderen sogar verschlechtert. Wissenschaftler verglichen die Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber Menschen mit Depressionen, Alkoholabhängigkeit und Schizophrenie im Jahr 1990 und 2011. Dabei zeigte sich, dass das Bedürfnis nach sozialer Distanz gegenüber Menschen mit Schizophrenie gestiegen war: Im Jahr 1990 lehnten es beispielsweise 39 Prozent der Befragten ab, eine Person mit schizophrenen Symptomen einem Freund vorzustellen, 44 Prozent würden diese Person nicht für einen Job vorschlagen. Diese Werte stiegen bei der zweiten Befragung im Jahr 2011 auf 53 Prozent und 63 Prozent.

Vorurteile und Schuldzuweisungen führen häufig zu Diskriminierungen psychisch Kranker

Stigmatisierung ist einer der Hauptgründe dafür, dass sehr viele Menschen mit psychischen Problemen keine oder erst verspätet Hilfe suchen. Betroffene Personen leiden unter Scham und Schuldgefühlen, Vorurteilen, sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung. Besonders stark mit einem Stigma belastet ist die Schizophrenie, gefolgt von Alkoholabhängigkeit und Depression. In der Psychologie wird Stigmatisierung sogar als „zweite Krankheit“ bezeichnet, wenn die Angst aufgrund der psychischen Erkrankung abgewertet und zurückgewiesen zu werden, von Betroffenen als so belastend wahrgenommen wird wie die Erkrankung selbst.

Mary hat aufgrund ihrer Narben viele Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht. „Ich bin vor zwei Jahren im T-Shirt zu einem Kennenlerngespräch für eine Wohnung gegangen. Der Vermieter hat meine Narben gesehen und gemeint, dass er niemanden haben möchte, bei dem er Angst haben muss, dass der sich etwas antut oder mit seinem Leben nicht klar kommt“, erzählt sie. In einem Bewerbungsgespräch um einen Job erging es ihr ähnlich: Der Interviewer fragte nach ihren Narben an den Armen, woraufhin Mary erklärte, dass diese ein paar Jahre zurückliegen würden und dass sie seitdem in Therapie sei und keine Probleme mit Selbstverletzung mehr habe. Trotzdem lehnte der Arbeitgeber sie mit der Begründung ab, dass es für ihn zu unsicher wäre, eine psychisch labile Person zu beschäftigen. Manchmal passiert es Mary, dass fremde Frauen, Mütter auf dem Spielplatz oder im Kindergarten, ihr nahelegen, dass ihr Kind in einer Adoptivfamilie besser aufgehoben sei.

Hilft mehr Wissen gegen Stigmatisierung?

Das Vorurteil, dass psychisch kranke Menschen gefährlich seien, ist tief verankert und weit verbreitet, entspricht aber nicht der Realität. „Denn Menschen mit psychischen Erkrankungen begehen im Schnitt ähnlich häufig Straftaten wie Menschen ohne psychische Erkrankungen“, sagt Andreas Heinz. Aufklärung ist wichtig, um falsche Annahmen richtigzustellen. Aber hilft Wissensvermittlung über die biologischen Grundlagen und Behandlungsmöglichkeiten psychischer Erkrankungen, um Stigmatisierung zu bekämpfen? Wie Studien zeigen, ist dies nicht immer der Fall. Die Erkenntnis, dass es sich bei psychischen Störungen um ernsthafte, zum Teil biologisch erklärbare Krankheiten handelt, die nicht nur durch ein Trauma entstehen und durch liebevolle Zuwendung beseitigt werden können, kann das Bedürfnis nach sozialer Distanzierung sogar vergrößern. Doch wie können Vorurteile und Stigma dann bekämpft werden? Andreas Heinz sagt, dass Wissensvermittlung alleine dazu nicht ausreicht. Es brauche zusätzlich Integration, Kontakt und Austausch von Betroffenen mit Nichtbetroffenen. So würden psychisch Kranke in ihrer Menschlichkeit sichtbar werden.

 

„Ich würde mir wünschen, dass eher nachgefragt wird, als mich direkt in eine Schublade zu packen“

Wenn Leute zu Katharina sagen „Du bist traumatisiert“ oder „Du bist krank“, dann entgegnet sie, dass die Krankheit zu ihr dazu gehört. Aber sie sagt auch: „Das bin nicht ich. Ich bin nicht die Krankheit.“ Es war für Katharina schwierig, die Krankheit als ein Teil von sich weder zu ignorieren, noch sich über diese zu definieren. Auch Katharina würde sich mehr Austausch wünschen, damit Angst und Misstrauen vor psychisch Kranken überwunden werden und Betroffene sich nicht verstecken müssen. „Ich würde mir wünschen, dass eher nachgefragt wird, als mich direkt in eine Schublade zu packen“, sagt sie. Um einander nachvollziehen zu können, müssten Betroffene und nicht Betroffene ins Gespräch kommen, auch wenn das von beiden Seiten Mut erfordere, sagt sie.

Um Stigmatisierung entgegenzuwirken, bräuchten wir also einen offeneren Umgang mit psychischen Erkrankungen. So würden Wissen und Verständnis zunehmen und Betroffene würden sich mit ihren Problemen nicht so alleine fühlen. Es wäre weniger mit Scham belastet zuzugeben, dass im Leben gerade etwas nicht rund läuft. Und es würde als normal gelten, deswegen einen Psychologen oder Therapeuten aufzusuchen. So wie es als normal gilt, mit einem gebrochenen Arm zu einem Arzt zu gehen.   

* Mary heißt eigentlich anders. Da sie hier persönliche Informationen, Gefühle und Erfahrungen teilt, möchte sie nicht, dass ihr echter Name in diesem Text veröffentlicht wird.

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