Süddeutsche Zeitung

Unsere Kernprodukte

Im Fokus

Partnerangebote

Möchten Sie in unseren Produkten und Services Anzeigen inserieren oder verwalten?

Anzeige inserieren

Möchten Sie unsere Texte nach­drucken, ver­vielfältigen oder öffent­lich zugänglich machen?

Nutzungsrechte erwerben

„Für meine Tochter trage ich Glatze und Damenbart“

Foto: Ronja Ebeling

Teile diesen Beitrag mit Anderen:

Als Milena Jonas mit 16 Jahren ihren glattrasierten, schlanken Körper im Spiegel betrachtete, stieg Hass in ihr auf. Sie war nicht perfekt genug. Als ihr die ersten Barthaare wuchsen, wollte sie sich gar nicht mehr ansehen. Heute, mit 32, liebt sie ihren behaarten Körper und fühlt sich endlich weiblich.

Manchmal wird Milena Jonas gefragt, ob sie sich männlich fühle. Die Frau mit leichten Stoppeln am Kinn schüttelt dann lächelnd den Kopf. Der Weg dahin war nicht leicht. Sie merkte schon mit elf Jahren, dass ihr mehr Haare wachsen als anderen Mädchen. Damals schob sie es noch auf die italienischen Wurzeln ihres Vaters. Sie wusste noch nicht, dass sie zu den eine Million geschlechtsreifen Frauen in Deutschland gehört, die am Polyzystische Ovarsyndrom (PCO-Syndrom) leiden.

Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes der Frauenärzte, erklärt die Folgen: „An den Eierstöcken bilden sich aus noch unreifen Eizellen viele kleine Bläschen, die nicht zu reifen Eizellen heranwachsen. Zusätzlich findet eine erhöhte Produktion männlicher Hormone statt.“ Die Symptome können Ausfall des Haupthaares, Übergewicht, Akne, Unfruchtbarkeit oder eine starke Körperbehaarung sein, die sich Hirsutismus nennt. Das stelle Betroffene auf eine psychische Belastungsprobe und könne Zweifel an der eigenen Weiblichkeit auslösen.

„Bin ich überhaupt eine Frau?“ hat sich Milena gefragt. Mit 13 Jahren kaufte sie sich zum ersten Mal Einwegrasierer. Mit der trockenen Klinge fuhr sie sich über die Stelle zwischen Bauchnabel und Hosenbund. Sie weiß noch, wie sie ein fieser Schmerz durchzuckte, als die Klinge in die Haut schnitt und sie zu bluten begann. Egal, das Ziel war erreicht: Die dunklen Haare waren weg. Aber kaum hatte sie den Flaum am Bauch entfernt, wucherte es an Beinen, Achseln und Rücken nach. Aus der Körperpflege wurde ein Akt der Verzweiflung, als Milenas erster Freund sagte: „Du bist zu haarig, das finde ich ekelhaft.“ Das Mädchen war schockiert, gleichzeitigt verstand es: Männer mögen keine Haare an Frauen.

Um den glatten Frauenkörpern in der Werbung näher zu kommen, gingen sechs bis sieben Einwegrasierer am Tag drauf

Wenn am nächsten Tag Schwimmunterricht im Stundenplan stand, verbrachte sie am Vorabend drei Stunden damit, ihren Körper akribisch auf Haare zu untersuchen. Um den glatten Frauenkörpern in der Werbung näher zu kommen, gingen sechs bis sieben Einwegrasierer am Tag drauf: „Wenn ich mich im Spiegel gesehen habe, stieg Hass in mir auf.“ Nicht mal ihre Mutter ahnte, womit die Jugendliche im Badezimmer ihre Zeit verbrachte.

Mit 21 Jahren setzte sie die Antibabypille ab, das veränderte alles: Sie verlor ihre schlanke Figur, für die sie immer gelobt wurde, und nahm plötzlich zu. Der Haarwuchs wurde stärker, plötzlich hatte sie Stoppeln am Kinn. Die Periode blieb aus, sie war aber nicht schwanger. Christian Albring erklärt, dass die Antibabypille auch als Therapiemaßnahme genutzt werden könne, um die Symptome zu lindern. Erst nach dem Absetzen erkannte Milena, dass etwas nicht stimmt: „Das Ausbleiben der Blutung hat mich sehr belastet. Ich habe mich weniger weiblich gefühlt.“

„Mir wurde gesagt, ich müsse bereit sein, alles mit meinem Körper zu tun“

Als sie mit 24 Jahren ihren heutigen Ehemann kennenlernte, bekam er mit, wie viel Zeit und Nerven das tägliche Enthaaren kostete. Er sagte ihr, dass sie sich für ihn nicht rasieren brauche: „Es ist dein Körper, nicht meiner.“ Als sie ihrem Mann das erste Mal körperlich begegnete, ohne sich vorher stundenlang enthaart zu haben, war sie nervös. „Er hat mir viel Sicherheit gegeben. Es wurde schnell zur Normalität“, sagt sie. Über dem Bett des Paares hängt heute ein Portrait der mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo - eine unfruchtbare Frau mit Oberlippenbart und zusammengewachsenen Augenbrauen.

Frauen mit dem PCO-Syndrom haben wegen des unregelmäßigen Eisprungs oft Schwierigkeiten, schwanger zu werden. In einer Kinderwunschklinik wurde Milena daher zu einer teuren Hormontherapie geraten. „Mir wurde gesagt, ich müsse bereit sein, alles mit meinem Körper zu tun. Ansonsten wäre der Kinderwunsch ja nicht so groß“, sagt Milena. Trotz ihrer Verzweiflung war sie anderer Meinung und recherchierte selbst zum PCO-Syndrom. Heute weiß sie, dass es spezielle Kliniken, Gynäkologen und sogar Selbsthilfegruppen gibt.

Über 70 Prozent aller Frauen mit PCO-Syndrom weisen eine Stoffwechselsituation auf, wie sie Typ-II-Diabetiker haben. Sie haben oft erhöhte Blutzuckerwerte und einen erhöhten Insulinspiegel, was direkt auf den Zyklus einwirkt und die übermäßige Produktion männlicher Hormone fördert. Deshalb gilt es, den Insulinspiegel dauerhaft zu senken. Zur Therapie gehören viel Sport, eine kalorienarme Ernährung und meist der Einsatz eines Medikaments, das auch bei Diabetespatienten eingesetzt wird. „Die Rate von Zyklen, in denen ein Eisprung stattfindet, kann so verdoppelt werden“, erklärt Christian Albring. Milena und ihr Partner haben es wohl einfach dem richtigen Zeitpunkt zu verdanken, dass sie trotz PCO-Syndrom auf natürliche Weise schwanger wurde. Sie sind heute Eltern der fünfjährigen Elisabet, der Milena ein Vorbild sein möchte.

An einem Sommertag schlüpfte Milena also mit unrasierten Achseln in ein Trägertop und trat auf die Straße. Zuerst presste sie ihre Arme eng an den Körper, dann wurde sie lockerer. Beim nächsten Mal trug sie einen Midirock, der ihre behaarten Knöchel zeigte. Irgendwann ist sie in Hotpants und einem dichten Flaum auf den Beinen rausgegangen. „Viele Frauen wissen gar nicht, wie befangen sie sind. Die Befreiung ist wie ein Rausch“, so Milena über die neue Sichtweise auf ihren Körper.  Es kostet sie heute noch Überwindungskraft, ihren Damenbart zu tragen. „Bärte werden von Männern getragen, nicht von Frauen“, so Milena, die über sich hinausgewachsen ist. Sie begann, ihre Erfahrung online zu teilen und rief Frauen auf, sich im Kampf gegen unrealistische Schönheitsideale zu solidarisieren. Auf Instagram erreicht sie damit heute mehr als 8000 Menschen.

Milena möchte ihrer Tochter das Hadern mit sich selbst ersparen

Untersuchungen haben ergeben, dass die Veranlagung zum PCO-Syndrom vererbbar ist. Albring bestätigt, dass Töchter betroffener Frauen ein erhöhtes Risiko haben. Um Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit möglichst zu vermeiden, rät er: „Eine Beachtung des Körpergewichtes und regelmäßige sportliche Betätigung können vorbeugend wirken.“ Es wird sich erst in der Pubertät zeigen, ob Elisabet auch mit der Krankheit und ihren Symptomen konfrontiert werden wird. Die Diagnose sollte laut Albring möglichst früh gestellt werden, auch um das Risiko für spätere Diabetes- und Herz-Kreislauf-Krankheiten zu verringern.

Milena möchte ihrer Tochter das Hadern mit sich selbst ersparen. Als Elisabet drei Jahre alt war, wollte sie ihre schulterlangen Haare abrasieren. Milena hielt das zunächst für eine Phase, aber das Betteln um eine Glatze hielt monatelang an. An einem Tag rasierte der Vater, der seine Haare bis zur Hüfte trägt, dem gemeinsamen Kind am Küchentisch eine Glatze. Elisabet jubelte, doch nach einigen Tagen stellte sie fest, dass sie das einzige Mädchen ohne lange Haare war. „Sie hat es bereut“, sagt ihre Mutter. Deshalb griff sie selbst zum Rasierapparat und scherte sich die Locken vom Kopf, um sie gemeinsam mit ihrem Kind wieder wachsen zu lassen: „Für meine Tochter trage ich Glatze und Damenbart. Haare sind menschlich und definieren nicht unser Geschlecht.“

  • teilen
  • schließen