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Tobias litt an Duchenne Muskeldystrophie und schickte seine Eule um die Welt
Was bleibt, ist das faustgroße Stofftier mit dem Namen Frieda. Eine Eule aus Plüsch mit türkisgrünem Stirnband. Sie hat Flügel, so klein, dass man ihr das Fliegen kaum zutraut. Füße, so groß, dass ihr wohl auch das Laufen schwerfallen würde. Trotzdem ist sie schon weit rumgekommen.
Für Tobias Baumann war Frieda der Schlüssel zur Welt. Er hatte sie losgeschickt, weil seine Krankheit ihn ans Bett fesselte.
"Hallo, ich bin Tobi, ein 29 Jahre junger Pfälzer aus Ludwigshafen am Rhein. Seit Geburt habe ich Muskelschwund (Muskeldystrophie Duchenne). Trotz meines Handicaps bin ich ein lebensfroher Mensch. Da ich momentan leider nur im Bett liegen kann und somit auch nicht reisen kann, habe ich mir was überlegt. Ich habe mein Lieblingsstofftier, die Eule Frieda, auf Reise geschickt."
Es begann mit dieser Nachricht. Im Sommer 2015 lag sie im Facebook-Postfach der German Sea Hawkers, einem deutschlandweit aktiven Fanklub des Football-Teams aus Seattle, den ich mit Freunden gegründet hatte. Ihn habe das Seahawks-Fieber gepackt, schrieb Tobias. Frieda sollte die Spieler des NFL-Teams kennenlernen.
Dabei können wir helfen, antwortete ich damals – und erhielt drei Monate lang keine Antwort. Ich wunderte mich und befasste mich in der Zwischenzeit mit der Erbkrankheit Muskeldystrophie Duchenne. Sie führt zum Verfall der Muskulatur. Eingeschränkte Bewegung ist die Folge, erst grobmotorisch, dann feinmotorisch, zuletzt versagen die Organe. Außer ein paar Zahlen und Fakten, so hatte ich das Gefühl, wusste ich nichts über Duchenne.
Dann schrieb Tobias: "Frieda ist bald in Seattle." Er hatte sie per Post zu einer Frau geschickt, die ihn mal in Deutschland besucht hatte. Dort stockte Friedas Reise. Deshalb begannen Tobias und ich, per Nachricht die Abenteuer vor Ort zu koordinieren. Einen Trainingsbesuch, Treffen mit Spielern in der Kabine, einen Ausflug ins Stadion. Menschen, die die Eule bei sich aufnahmen, hielten alles mit der Kamera fest und schickten die Fotos an Tobias. Der stellte sie dann auf die Website frieda-ontour.de.
Wir schrieben uns oft zu später Stunde. Tobias lag nachts oft wach. Meine Nachrichten waren meist ein paar Sätze lang. "Tolle Fotos von Frieda sind das. Sie hat ganz schön was erlebt in Seattle. Sag mal, ist es dir möglich, deine Wohnung zu verlassen?" Seine Antworten oft kurz: "Leider zurzeit nicht."
Wenn Tobias’ Nachrichten länger wurden, waren sie ernst. "Leider geht’s mir nicht so gut. Vllt muss ich ins KH, hab Blasenentzündung und zu wenig Wasserausfuhr." Sein Leiden in 100 Zeichen.
Bei Tobias wurde Muskeldystrophie Duchenne im Alter von sieben Jahren festgestellt, als Ärzte ein Stück Muskel aus seinem Bein entnahmen. Nach drei Jahren im Kindergarten hatte er gemerkt, dass er sich nicht so schnell bewegen konnte wie andere Kinder. Dass seine Muskulatur nicht so funktionierte, wie sie eigentlich sollte. Es fehlte Dystrophin. Ohne den Wirkstoff kein Stoffwechsel im Muskel. Mit acht Jahren war er auf den Rollstuhl angewiesen, weil ihm oft die Kraft zum Gehen fehlte. Mit zehn wurde er operiert, um die Gehfähigkeit zu verbessern. Mit 15 wurde zur Entlastung der Muskulatur seine Wirbelsäule versteift. Mit 18 Jahren war er ein Pflegefall.
Die Schmerzen ließen sich mit Medikamenten kontrollieren, der körperliche Verfall nicht. Es gibt kein Heilmittel für Duchenne. Am meisten aber tat es Tobias weh, dass draußen vor den Fenstern seiner Wohnung das Leben vorbeizog, während er drinnen in seinem Bett lag, rund um die Uhr von Pflegern versorgt wurde und im Internet soziale Kontakte pflegte. In seinem kaputten Körper gefangen zu sein, zerfraß ihn mehr als die Krankheit seine Muskulatur.
Er wünschte sich Besuch, das schrieb er immer wieder auf seiner Facebook-Pinnwand. "Will jemand mit mir kochen? Will jemand mit mir den Super Bowl schauen?" Er bekam dafür viele Likes und Kommentare, aber wenig Besuch. Und fragte trotzdem immer wieder.
"Noch größer als die Enttäuschung, niemanden zu treffen, ist die Enttäuschung, wenn jemand seinen Besuch ankündigt und dann doch nicht kommt", erzählte er mir einmal.
18 Monate vergingen seit der ersten Nachricht, Woche für Woche schrieben wir uns, bis ich mir sicher war, dass ich Tobias nicht enttäuschen würde. „Was hast du nächste Woche so vor? Bist du am Freitag schon verplant?“
„Nee, hab nichts vor.“
„Ich würde dich gerne besuchen kommen“
„Ok, cool.“
Erst als ich gemeinsam mit zwei Freunden aus dem Fanklub aufbrach und „Sind auf dem Weg“ schrieb, war ich mir sicher, dass Tobias sich freute. Er schickte mir als Antwort ein Foto von einem Tisch, darauf drei Teller mit Hot Dogs, das Plüschtier-Maskottchen der Seattle Seahawks und Frieda, die Eule.
Mit einer Stunde Verspätung kamen wir in Maudach an. Ein Pfleger bat uns ins Haus und deutete den Weg in Tobias’ Schlafzimmer, wo der von seinem Bett aus in den Flur blickte. Zur Unsicherheit beim ersten Aufeinandertreffen mit einer Internet-Bekanntschaft kam die Unbeholfenheit.
„Hallo Tobias“, sagte ich und griff nach seiner Hand, die aus einer dicken Schicht von Stoffdecken herausschaute und auf einer Computermaus ruhte. Eine Berührung, der wenig durchdachte und hilflose Versuch eines Händeschüttelns. „Hallo“, flüsterte Tobias. Seine Stimme war schwach und ich war mir nicht mehr so sicher, ob er sich wirklich über den Besuch freute. Die Beatmungsmaske, die mit drei dunkelblauen Gummibändern über Stirn und Wangen auf seine Nase gespannt war, verdeckte die Regung in Tobias’ Gesicht.
Ich entschuldigte mich für die Verspätung und bereute es sofort. Was sollte er auch dazu sagen? Er war sowieso da, egal ob wir gekommen wären oder nicht.
Der Pfleger, der uns die Tür geöffnet hatte, brachte Multivitaminsaft und bot uns Plätze auf der Couch an. Wir schoben die Fahnen, Wimpel und Schals von Tobias’ Lieblingsteams an den Rand des Sofas, das parallel zum Bett an der Wand stand, und setzten uns. Sehen konnte uns Tobias so nicht, er konnte weder Kopf noch Körper drehen. Trotzdem waren seine Augen weit geöffnet.
Da saßen wir. Da lag er. Zwischen Sofa und Bett der kleine Tisch mit den drei längst kalt gewordenen Hot Dogs, der da stand wie ein Hindernis, das wir überwinden mussten, um ins Gespräch zu kommen.
Ich blickte zur Wand hinter Tobias‘ Bett und sagte: „Wow, sind das viele Bilder.“ Schon als ich das Zimmer betreten hatte, waren mir die vielen Fotos, Autogrammkarten und Plakate aufgefallen, die die weißen Wände freundlicher erscheinen ließen. Sie sind bestimmt nicht zum ersten Mal der Einstieg eines Gesprächs, dachte ich.
Die Bilder waren Tobias’ Stolz. Viele zeigten Orte, an die Eule Frieda in letzter Zeit per Post gereist war. Nach Hollywood zur Oscar-Verleihung, ans Set von Jurassic Park, zum Fußball nach Dortmund. Sie hatte unter anderem Dirk Nowitzki, Philipp Lahm und Markus Lanz besucht.
Andere Fotos zeigten Tobias im frühen Kindesalter, umgeben von lächelnden Familienmitgliedern. Die blauen Augen des blonden Jungen, der sein Schicksal noch nicht kannte, strahlten. Wie seine Eltern wusste er damals noch nicht, dass er von Anfang an nur eine 50:50-Chance auf ein normales Leben hatte und eines von 3.500 Neugeborenen war, das die Diagnose Duchenne erhält. Dass er von seiner Mutter das defekte von zwei X-Chromosomen geerbt hatte, das er als Junge nicht mit einem gesunden Y-Chromosom seines Vaters ausgleichen konnte. Dass in seinem Körper innerhalb von wenigen Jahren alle Muskelfasern zerstört werden würden, bis irgendwann zwischen 20 und 40 Jahren auch Herz und Lunge die Kraft fehlen würde.
Tobias machte eine Pause, um die Luft auszuatmen, die durch den Schlauch sanft und regelmäßig in seine Nase gedrückt wurde. Das war jedes Mal mit einem leisen Keuchen verbunden und klang, als hätte er zuvor minutenlang die Luft angehalten.
Er erzählte weiter: von seiner Mutter, die ihm hilft, Frieda zu verschicken. Von der Lebenspartnerin seines Vaters, einer Brasilianerin, die sehr nett ist und so lebendig. Von seinem Bruder Nils, der nicht mehr lebt.
An einem Sonntag im Juni 2002 spielten Tobias, damals 15 Jahre alt, und Nils, drei Jahre jünger und ebenfalls an Duchenne erkrankt, vor dem Haus der Familie Hockey. Beide waren im Kader der „Rolli Teufel Ludwigshafen“, einem Elektro-Rollstuhl-Hockey-Club. Nils fuhr auf die Kante einer Verkehrsinsel und flog aus dem Rollstuhl. Er starb am nächsten Morgen. Ein Knochenbruch hatte bei ihm den Verschluss eines Blutgefäßes verursacht.
Nachdem Tobias das erzählt hatte, schwieg er. Das Sprechen fiel ihm mit der Zeit immer schwerer. Er bat uns, die Pflegerin zu rufen, die inzwischen ihren Kollegen abgelöst hatte. Sie sollte die Flüssigkeit, die sich beim Reden angesammelt hat, aus dem Beatmungsschlauch entfernen.
„Soll ich ein wenig das Fenster öffnen?“, fragte sie. Das Gemisch aus drückender Luft und Hot-Dog-Geruch hatte alle müde gemacht. Tobias sprach immer weniger. Und uns gingen die Fragen aus. Erst in diesem Augenblick realisierte ich, dass Tobias’ Kopf so lag, dass er nicht nach draußen blicken konnte. Er sah immer nur das Ende seines Bettes, wo ein großer Computerbildschirm stand. Sein Fenster zur Welt.
Tobias wollte mit uns jetzt durch dieses Fenster blicken. Die Bilder von Frieda, die auf dem Computer in Ordnern sortiert lagen, hätten die Wände im Zimmer lückenlos gefüllt. Wahrscheinlich mehrfach.
Mit einem Klick öffnete Tobias die Tabelle mit dem Namen "Frieda on Tour". Er steuerte die Maus mit gekrümmter Hand – wacklig, schwerfällig und langsam – das letzte bisschen Kontrolle, das er jetzt noch über seine Motorik hatte.
In einer Liste hielt er fest, wo auf der Welt sich Frieda und ihre neun Zwillingsschwestern aufhielten. Irgendwann hatte er Doppelgängerinnen von Frieda besorgt, um mehrere Reisen gleichzeitig möglich zu machen. Eine war gerade auf Hawaii gewesen, befand sich aber wohl schon auf dem Rückweg. Obwohl Tobias die Aufenthaltsorte der Eulen gründlich notierte, gingen immer wieder welche verloren. In zwei Feldern stand Verschollen. „Ich weiß echt nicht, wie die immer wegkommen“, sagte er kaum hörbar, doch er konnte die Enttäuschung in seiner Stimme nicht verbergen.
„Wenn wir sie zum Super Bowl nach Houston bringen, sorgen wir dafür, dass sie auf jeden Fall auch wiederkommt“, erwiderte ich. Wir wollten Frieda erneut zum NFL-Endspiel schicken, denn beim letzten Versuch hatte ihr Reisebegleiter keine Fotos gemacht.
Mit diesem Versprechen ging der Besuch zu Ende. Ich stand auf, blickte mich nochmal im Raum um und blieb bei den Hot Dogs hängen. Sie waren bis zum Schluss liegengeblieben. Einmal hatte ich reingebissen, mehr aus Höflichkeit als aus Appetit. Als mir klar war, dass Tobias nicht mitessen würde, hatte ich keinen Hunger mehr.
„Morgen kommen die Hot Dogs in den Mixer“, sagte Tobias zum Abschied. Er wollte auch normale Sachen essen. Die spezielle flüssige Nahrung, die er sonst über eine Magensonde zu sich nahm, langweilte ihn.
Am 2. Februar 2017 schrieb mir Tobias. Kurz, wie immer. „Tolle Bilder.“ Dazu ein Smiley. Er meinte die ersten Fotos, die er von Friedas Super-Bowl-Reise bekommen hatte. Ich antwortete mit einem Smiley. Es war das letzte Mal, dass wir uns schrieben.
Drei Monate später stand ich in einem Wald in der Pfalz vor einem kleinen Erdloch. Dahinter der Baum, an dessen Wurzeln Tobias’ Asche vergraben sein würde. In einem Kreis drumherum Familie, Freunde und die Menschen, die der junge Mann mit Muskelschwund durch seine Geschichte berührt hatte. Wir alle lauschten den Worten des Pfarrers, der 15 Jahre zuvor schon die Grabrede von Bruder Nils gehalten hatte.
Ab und zu blies der Wind so kräftig durch die Bäume, dass das Rauschen Teile der Rede verschluckte. Ich blickte in den Wald hinein und dachte an den Jungen mit der Eule. Am 21. März war er gemeinsam mit Frieda aufgebrochen.