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Was genau ist eine dissoziative Identitätsstörung?

Wer eine dissoziative Identitätsstörung hat, teilt sich den eigenen Körper mit mehreren Persönlichkeiten.
Foto: Tunatura / Adobe Stock

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Triggerwarnung: In diesem Text geht es auch um sexualisierte Gewalt und Vergewaltigung. 

In der aktuellen Folge unserer Reihe „Talking Minds“ berichtet Rebeka von ihrer psychischen Erkrankung: einer Dissoziativen Identitätsstörung (DIS). Betroffene dieser psychischen Erkrankung wechseln – oft ohne es zu merken – in unterschiedliche Persönlichkeitszustände. Sie nehmen sich nicht als eine, sondern je nach Bewusstseinszustand, als unterschiedliche Personen wahr. Weil diese Erkrankung sehr komplex und die Symptomatik von Gesunden nicht einfach nachzuvollziehen ist, möchten wir sie in diesem Interview einmal genauer beleuchten. Wir sprechen dafür mit Harald Schickedanz. Er ist Psychotherapeut, ärztlicher Direktor der DRV- Klinik Hüttenbühl in Bad Dürrheim und im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Trauma und Dissoziation (DGTD). Seit mehr als 20 Jahren behandelt er Menschen mit Dissoziativer Identitätsstörung (DIS), einer komplexen Traumafolgestörung.

jetzt: Woran erkennt man, dass jemand oder gar man selbst an DIS erkrankt ist?

Harald Schickedanz: Es kann sehr schwierig sein, diese Erkrankung zu erkennen. Betroffene tun oft viel dafür, dass sie damit nicht auffallen. Manche müssen sich auch erst selbst auf die Schliche kommen. Ich hatte mal eine Patientin, die hat ihre Bank um Hilfe gebeten, weil ständig Geld von ihrem Konto verschwand. Als der Filialleiter ihr die Überwachungsfilme des Geldautomaten zeigte, musste sie mit großem Entsetzen feststellen, dass sie selbst das Geld abgehoben hatte. Das Gefühl, viele Personen zu sein, Erinnerungslücken und eigene Handlungen, die im Alltagsbewusstsein nicht wahrgenommen werden, deuten auf eine DIS hin. 

Welche Symptome können Sie im Gespräch mit der Patient*in beobachten?

Persönlichkeitswechsel, sogenannte Switches. Dann spricht ein Mensch beispielsweise plötzlich mit veränderter Stimme, ist in einem anderen Bewusstseinszustand oder tut unerwartete Dinge. Ich habe es schon erlebt, dass sich erwachsene Menschen während des Erstgespräches hinter meinem Sofa versteckt haben. Manchmal sind Betroffene plötzlich nicht mehr ansprechbar oder nur als eine andere Person, ein Kind zum Beispiel. 

Wie kann es sein, dass eine Person ihre DIS erstmal nicht bemerkt, während sie sich später wie Rebeka so bewusst darüber ist, dass die Anteile untereinander kommunizieren und eigene Namen und Kleidungsstile haben? 

Die „anscheinend normale Persönlichkeit“ möchte sich normal entwickeln. Ihre Aufgabe ist es, traumatische Gefühle und schreckliche Erinnerungen von sich fernzuhalten. Ein Wechsel zu emotionalen Persönlichkeitsanteilen ist den Betroffenen zunächst unheimlich und wird als außerordentlicher Kontrollverlust erlebt. Deshalb steigern sie ihr Bemühen, um den Kontakt mit ihnen und den Triggern zu vermeiden. Im Laufe der Therapie und durch eigene integrative Anstrengung kann es sein, dass ein Mensch die verschiedenen Persönlichkeitsanteile so erforscht und sie als etwas zur eigenen Person Gehöriges anerkennt. Dann können sie auch mal ihren eigenen Stil pflegen und Namen tragen.  

So wie Rebeka haben viele Betroffene Persönlichkeitsanteile, die Kinder sind. Wieso ist das so?

Das liegt daran, dass eher dann Teilungen entstehen, wenn ein Mensch noch nicht erwachsen, also noch nicht „integriert“ ist. Wenn wir auf die Welt kommen, bestehen wir aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen. Wir brauchen ungefähr bis zum 21. Lebensjahr, bis wir bei normalem Verlauf die verschiedenen Anteile zu einer Gesamtpersönlichkeit integriert haben. Wenn jemand sehr früh im Leben Gewalt erlebt, dann kann es passieren, dass dies nicht gelingt. Einige Anteile bleiben dann unter Umständen im Ich–Bewusstsein des Betroffenen in dieser Alltagsstufe stehen, während andere Anteile sich weiterentwickeln. 

„Wenn wir auf die Welt kommen, bestehen wir aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen“

Was sind die Auslöser einer DIS?

Die Patienten haben oft in ihrer frühen Kindheit chronische Vernachlässigung, schwere körperliche, emotionale und in der Regel auch sexuelle Gewalt erlebt. Meistens geschah das durch eine primäre Bindungsperson. Das ist das Toxischste überhaupt: Um zu überleben, müssen die Kleinkinder sich an sie binden, weil sie ihren Schutz und ihre Fürsorge brauchen. Gleichzeitig müssen sie sich vor ihr verteidigen, um zu überleben.

Die Teilung der Persönlichkeit ist also ein Schutzmechanismus der Psyche?

Extremer traumatischer Stress ist eine Belastungserfahrung, die von unserem natürlichen Heilungssystem nicht abgefangen werden kann. Dann tritt ein Überlebensmechanismus in Kraft, den wir alle haben: Wir stellen bei sehr starken Schmerzen, Angst oder Stress auf Autopilot oder Tot-stell-Reflex um, wir dissoziieren. Wenn dieser Überlebensmechanismus schon früh im Leben sehr intensiv und immer wieder aktiviert wird, dann kann es zu einer strukturellen Dissoziation dritten Grades kommen, also zu einer geteilten Persönlichkeit. 

Rebeka hat mir erzählt, dass sie in ihrem DIS–System einen Host hat, der für den Körper verantwortlich ist und die meiste Zeit präsent ist. Was ist die Funktion eines Hosts?

In der Traumatherapie betrachten wir den Host als die „anscheinend normale Persönlichkeit“. Der Host übernimmt Handlungen, die im Alltag benötigt werden. Oft kümmert er sich um Haushalt und Beruf. 

Welche Arten von Persönlichkeiten sind oft in einem DIS–System anzutreffen?

Neben der „anscheinend normalen Persönlichkeit“ gibt es zwei emotionale Persönlichkeitsanteile: Das sind fragile Anteile, die oft traumatische Erfahrungen, Schmerz und Furcht in sich tragen und einen kindlichen oder jugendlichen Erfahrungshorizont haben. Und es gibt kontrollierende emotionale Persönlichkeitsanteile, die sich mit den Tätern identifiziert haben und deren Glaubenssätze übernommen haben. 

Wie viele Persönlichkeiten können in einem DIS–System existieren?

Es gibt keine Begrenzung der Anzahl. 

Wie entstehen die Charakteristika der Teilidentitäten?

Das hat etwas mit ihren Entstehungsbedingungen zu tun. Wenn jemand als Kind anhaltend vergewaltigt wird, und das verbunden ist mit Zuschreibungen, wie „du hast das verdient, du willst das so“, dann kann es sein, dass diese übernommen werden. Besonders wenn es nahestehende Personen waren, die die Zuschreibungen gemacht haben. Um diese Erfahrung zu überleben, entwickelt ein Anteil eine Identifikation. Er hat dann das für sich geltende Bewusstsein „Ich bin eine Schlampe, ich brauche das so.“ Die Alltagspersönlichkeit geht unter Umständen höchst phobisch damit um und will gewisse Körperteile nicht wahrnehmen. Dann kann es auch passieren, dass die Alltagspersönlichkeit zum Beispiel kein Gefühl im Unterleib hat. 

„Wenn ein Mensch extrem quälende oder belastende Erfahrungen gemacht hat, kann sich eine amnestische Barriere aufbauen“

Viele Betroffene berichten von Erinnerungslücken und teils unkontrollierten Switches, Sie nannten das auch als beobachtbares Symptom. Wie kommt es dazu?

Letztlich durch innere Phobien. Wenn ein Mensch extrem quälende oder belastende Erfahrungen gemacht hat und alles versucht, um nicht an diese zu denken, dann kann sich eine amnestische Barriere aufbauen. Das bedeutet, dass die Person dann mit ihrem Alltagsbewusstsein nicht mehr an diese Erinnerung kommt. Jedoch kann ein Trigger einen Wechsel dahin auslösen. Das kann zum Beispiel ein Messer sein, das jemanden an einen gewalttätigen Übergriff erinnert. Dann wechselt der Mensch in einen kindlichen, ausgelieferten, wütenden, mit dem Täter identifizierten oder hilflosen Zustand. Kommt er zurück in seinen Ausgangszustand, kann es eine gewisse Zeit dauern, bis dieser Mensch wieder weiß, wo er ist. Er empfindet es so, als wäre er weg gewesen. 

Können Switches auch ohne einen Trigger passieren? 

Emotionale Persönlichkeitsanteile streben danach, sich bemerkbar zu machen. Sie wollen anerkannt und integriert werden. Aus diesem Grund sind nicht immer äußere Trigger notwendig, um verschiedene Persönlichkeitsanteile auf den Plan zu rufen. Die jeweiligen Anteile dringen unwillkürlich ins Bewusstsein der Alltagspersönlichkeit ein. 

Was ist das Ziel der Therapie? 

Das Ziel der Therapie ist es, die innere Kommunikation zwischen den Bewusstseinszuständen zu verbessern. Der Mensch soll eine Geschichte zu seinem Leben erzählen, das übliche Spektrum von positiven und negativen Gefühlen spüren und auch seine Belastungserfahrung ungefähr zusammenfassen können. Ein Mensch mit einer DIS kann, wenn er das will, vollkommen gesund werden, das heißt, eine Gesamtpersönlichkeit werden. Aber das ist lange und meistens harte Arbeit. 

Was machen Sie konkret in der Therapie?

Es geht darum, innere Phobien zu überwinden. Wenn Patienten sich an Ereignisse erinnern, dann schauen wir uns gemeinsam an, was diese sich dabei gedacht haben, wie sie sich gefühlt und verhalten haben. Die Patienten sollen sich dadurch zu eigen machen, was sie bis jetzt als separierten Teil möglichst weit von sich gehalten haben. 

Wenn die Integration der Persönlichkeitsanteile gelingt, haben Betroffene dann nicht das Problem, dass die Schutzfunktion auch wegfällt?

Ja, insbesondere dann, wenn die Menschen aus den Gewaltbeziehungen noch nicht draußen sind. Das ist ein häufiges und großes Problem in der Therapie. Idealerweise funktioniert Psychotherapie nur im gewaltfreien Raum. Häufig ist es jedoch ein langer Abstimmungsprozess, bis Menschen aus Gewaltbeziehungen aussteigen. Manchmal gibt es etwas, das sie dort hält, vielleicht auch einen Täter, der sie am Ausstieg hindert. 

Die Diagnose DIS umstritten. Warum?

Eine Gesellschaft hat eine Phobie davor, ihre eigenen Schrecken zu bearbeiten. Das hat einen guten Grund: Ich habe schon einige Menschen behandelt, die schreckliche Kinderfolterfilme ansehen mussten, um sie zu bewerten. Die sind davon krank geworden. Wenn die Jungen, die in Münster gequält worden sind, in zehn Jahren in Therapie gehen, weil sie unerklärliche Schmerzen haben, verschiedene Persönlichkeitsanteile an sich entdecken und Dinge erzählen, die man sich nicht vorstellen kann, dann wird es eher so sein, dass Therapeuten, Ärzte und Richter das von sich schieben. Es ist viel leichter zu sagen: „So etwas gibt’s nicht, das habt ihr euch eingebildet“, als diese Schrecken anzuschauen und damit zu akzeptieren, dass sie in der eigenen Nähe existieren. 

Wie ist das für Sie als Therapeut, mit diesen Geschichten und Erlebnissen konfrontiert zu werden?

Ich habe durchaus eigene innere Filme von Patienten, die so schreckliche Dinge erlebt haben, die ich nicht so einfach vergessen kann. Das musste ich dann selbst verarbeiten, das nennt man sekundäre Traumatisierung. Man muss sich dann von Kollegen helfen lassen und sich schützen. Aber ich mache das jetzt schon gut 20 Jahre und lerne jeden Tag von meinen Patienten. Sie schaffen es schließlich auch, mit diesen schrecklichen Dingen zurecht zu kommen. 

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