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„Rassismus muss eine Rolle in der Therapie spielen“

In der psychotherapeutischen Ausbildung findet Sensibilisierung für Rassismus kaum statt.
Illustration: FDE

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Seit mehr als einem Jahr sucht Aaliyah nach einem Therapieplatz. Das ist gerade für niemanden leicht, es gibt einfach zu wenige Plätze. Für die 23-Jährige jedoch ist es besonders schwierig – denn Aaliyah sucht nach einem:r Therapeut:in, der:die auf Rassismus sensibilisiert ist. „Meine Erfahrungen mit Rassismus belasten mich psychisch sehr”, sagt sie. „Seit ich mich mit meiner Identität als Schwarze Frau auseinandersetze, nehme ich immer stärker wahr, wie häufig ich im Alltag diskriminiert werde. Beispielsweise hat ein ehemaliger Chef das N-Wort benutzt, als er vor dem Team über mich gesprochen hat.” Hinzu kam die Pandemie: Die soziale Isolation setzte Aaliyah zu, obendrein befand sie sich zu Beginn des ersten Lockdowns auf Jobsuche und war infolge der Beschränkungen mehrere Monate lang arbeitslos. „Ich war in einem Loch”, erklärt sie. „Seitdem suche ich nach Therapie. Aber ich finde keine Therapeut:innen, die eine Kassenzulassung haben und auf Rassismus sensibilisiert sind – beides ist für mich eine Voraussetzung.”  

„Rassismus muss eine Rolle in der Therapie spielen, weil er eine im Leben spielt”, sagt Kati Eloho Nowothnig, Sozialpädagogin und systemische Familientherapeutin mit Fokus auf rassismussensibler Therapie. Das Problem sei jedoch, dass es in Deutschland nur wenige Therapeut:innen gebe, die rassismussensibel arbeiten – denn eine Sensibilisierung für Diskriminierung finde in der Ausbildung nicht statt. Diese Erfahrung machte nicht nur Nowothnig selbst: Auch Psychologiestudierende, mit denen sie im Rahmen eines Workshops arbeitet, erzählen, dass sie keine diskriminierungsbezogenen Inhalte vermittelt bekommen. „Die Grundlagen der psychologischen Lehre beruhen auf Menschen wie Freud – also weißen Männern”, erklärt Nowothnig. „Bisher wird in der Ausbildung meines Wissens nach nicht gelehrt, wie ich mit marginalisierten oder queeren Menschen umgehe. Studierende müssen sich dazu selbst bilden oder Workshops initiieren, um an Informationen zu gelangen.”  

„Unterschiedliche soziale Hintergründe können auch unterschiedliche Belastungen und Diagnosen nach sich ziehen”

Das kritisiert auch Brigitte Schigl. Die Psychologin und Psychotherapeutin lehrt und forscht mit Schwerpunkt Gender, unter anderem an der Karl Landsteiner Privatuniversität in Krems, Österreich. Laut ihr gebe es an Universitäten im deutschsprachigen Raum zwar vereinzelt Studiengänge der Psychologie, die Diskriminierung thematisieren, sowie etwa die Möglichkeit, diesbezüglich Wahlfächer zu besuchen. In der psychotherapeutischen Ausbildung jedoch finde man das Thema kaum. „Die meisten Curricula sind Jahre alt und nicht auf dem neuesten Stand”, sagt sie. „Um einen Anpassungsprozess bemüht sich niemand.”  

Dass Diskriminierung in der psychologischen und therapeutischen Ausbildung meist keine Rolle spielt, liege laut Schigl auch daran, dass sich der Großteil der Psychotherapeut:innen nicht bewusst ist, dass das Thema eine Rolle spielen sollte. „Therapeut:innen brauchen alleine schon deswegen ein stärkeres Bewusstsein für Diskriminierung, weil unterschiedliche soziale Hintergründe auch unterschiedliche Belastungen und Diagnosen nach sich ziehen”, sagt sie. So seien Frauen beispielsweise anfälliger für Essstörungen, während Geflüchtete häufig unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden und queere Personen wiederum eine höhere soziale Belastung aufweisen, da sie im Alltag häufig Ablehnung von anderen Menschen erfahren.  

So auch Sam. Sam ist 26, hat sich mittlerweile als nicht-binär geoutet und ging mit 21 erstmals in Therapie, um unter anderem die Konflikte zu verarbeiten, die bereits im Jugendalter mit Sams Bisexualität entstanden waren. Denn Sam hatte sich als Teenager:in auf einer katholischen Schule in eine Mitschülerin verliebt, was in dem Umfeld sehr schwierig war – Homosexualität war an der Schule ein Tabu-Thema, dementsprechend hat sich Sam nicht getraut, sich zu outen. Unter dem Druck, einen wichtigen Teil von sich verstecken zu müssen, entwickelte Sam eine Essstörung – ein Zusammenhang, für den sich Sam in der Therapie mehr Bewusstsein gewünscht hätte. „Meine Therapeutin hat mich zwar nach konkreten Diskriminierungserfahrungen gefragt”, erzählt Sam. „Dass meine Sexualität damals mit Scham und Selbstzweifeln verbunden war, verstand sie jedoch nicht. Dadurch wurde ein Bereich meines Lebens, der einen großen Einfluss auf meine Probleme hatte, in Therapie nicht bearbeitet.” 

„In Bezug auf Diskriminierung haben Psychotherapeut:innen einen blinden Fleck”, sagt Schigl. „Die meisten glauben, dass Merkmale wie Gender, Hautfarbe oder Sexualität für sie keine Rolle spielen und für sie alle Menschen gleich seien. Damit wollen sie ausdrücken, wie vorurteilsfrei sie sind – Untersuchungen zeigen jedoch, dass das falsch ist, da wir nun mal mit unterschiedlichen Menschen auf unterschiedliche Weise interagieren.” Laut ihr sollten Therapeut:innen den gesellschaftlichen Hintergrund ihrer Patient:innen daher nicht ausblenden, sondern in den Blick nehmen. Da sie das aktuell jedoch nur lernen können, indem sie sich auf eigene Kosten weiterbilden, gebe es wenige Therapeut:innen, die das können. Hinzu komme, dass diese in vielen Fällen keine Kassenzulassung haben. Schigl vermutet, dass das zumindest in Österreich daran liegt, dass Psychotherapeut:innen mit Kassenzulassung so viele Patient:innen haben, dass sie für Fortbildungen in Gender- und Diversity-Themen keine Zeit haben. Das erschwere Menschen die Suche nach diskriminierungssensiblen Therapeut:innen zusätzlich.  

So erzählt auch Aaliyah von ihren Schwierigkeiten damit, Therapeut:innen zu finden, die auf Rassismus sensibilisiert sind. Hinzu kommt, dass sie sich als Schwarze Frau am wohlsten mit einer Therapeutin fühlen würde, die selber BIPoC (Black, Indigenous, People of Color) ist – auch, wenn das ihre Optionen zusätzlich einengt. Familientherapeutin Nowothnig versteht diesen Wunsch. In ihrer Praxis behandelt sie ausschließlich BIPoC – die vor allem zu ihr kommen, weil sie im Vorfeld schlechte Erfahrungen mit Weißen Therapeut:innen gemacht haben. „Die meisten wurden von Weißen Therapeut:innen zusätzlich diskriminiert”, sagt sie. „Sobald es um Rassismuserfahrungen ging, fielen Sätze wie: ,Als ich in Afrika war, habe ich auch Rassismus erfahren‘ oder ,Jetzt wird wieder die Rassismuskarte gespielt.‘ Das ist beschädigend und traumatisierend.”  

„Ich habe im Vorfeld angegeben, dass ich nicht als Frau angesprochen werden möchte – trotzdem wurde ich im Laufe des Gesprächs wiederholt falsch gegendert“

Auch Sam fällt es nicht leicht, eine:n Therapeut:in zu finden, der:die sensibel gegenüber Nicht-Binarität ist. „Ich hatte ein Erstgespräch in einer Praxis, die auf Trans-Themen spezialisiert sein soll”, erzählt Sam. „Ich habe im Vorfeld an verschiedenen Stellen angegeben, dass ich nicht als Frau angesprochen werden möchte – trotzdem wurde ich direkt zu Beginn und im Laufe des Gesprächs wiederholt falsch gegendert. Das war schlimm für mich, weil ich gerade dort nicht damit gerechnet hätte.” Auch Sam würde am liebsten bei einer queeren Person in Therapie gehen, möchte die Optionen an Therapieplätzen, die in Frage kommen, aber nicht noch stärker eingrenzen.  

Schigl und Nowothnig halten es prinzipiell für möglich, dass Therapeut:innen durch die entsprechende Schulung gut auf Diskriminierungserfahrungen eingehen können, die sie selbst nicht gemacht haben. Das habe jedoch Grenzen. „Als Frau kann ich Verständnis aufbringen, wenn ein Patient Probleme mit vorzeitigem Samenerguss hat”, sagt Schigl. „Die verschiedenen Aspekte nachempfinden kann ich jedoch nicht – ebenso wenig wie ein mittelalter Mann die Probleme nachempfinden können wird, die eine 17-jährige anorektische Patientin mit ihrem Körper hat.” Laut der beiden Expertinnen sei es daher auch wichtig, dass Therapeut:innen die Grenzen ihres Einfühlungsvermögens kennen und erkennen, wann sie eine Person lieber an jemand anderen verweisen sollten.  

Diese Selbstreflexion fehle den meisten Therapeut:innen im Umgang mit Diskriminierung laut Nowothnig jedoch. Meist denken sie zwar über die Rolle ihrer Patient:innen im Therapieprozess nach, hinterfragen aber ihre eigene nicht. Es gebe allerdings einfache Möglichkeiten, wie sich das ändern ließe. „Therapeut:innen können sich im Vorab-Gespräch mit den Patient:innen positionieren”, erklärt sie. „Indem sie beispielsweise sagen: ,Damit Sie Bescheid wissen: Ich bin ein Weißer Cis-Mann.‘ So geben sie ihrem Gegenüber die Chance, selbst einzuschätzen, ob die Person gut auf ihre Erfahrungen eingehen kann oder nicht – ohne, dass der:die Patient:in sich selbst positionieren oder selbst danach fragen muss. Denn natürlich möchte niemand jemanden am Telefon nach der Hautfarbe oder Genderidentität fragen.” Eine weitere Möglichkeit sei es, den Patient:innen eine grüne, eine gelbe und eine rote Karte zu geben, die diese während der Therapie nutzen können, um zu signalisieren, wie sie sich fühlen – ohne es direkt ansprechen zu müssen.  

Dass Therapeut:innen auf solche Möglichkeiten zurückgreifen, wünscht sich auch Sam. „Dass so viele Therapeut:innen unterschätzen, welche Rolle Diskriminierung für die Psyche von queeren Personen spielen kann, finde ich fatal”, sagt Sam. „Dass sich Queerfeindlichkeit auf die Gesundheit auswirkt, ist bekannt – beispielsweise sind die Suizidraten unter queeren Jugendlichen viel höher.” Und auch Aaliyah findet: „Wenn es schon überwiegend Weiße Therapeut:innen in Deutschland gibt, sollten sich diese wenigstens in der Ausbildung mit Rassismus beschäftigen, damit sie auf BIPoC eingehen können und nicht selbst unbewusst diskriminieren.” 

Da das Angebot an diskriminierungssensibler Therapie so limitiert ist, gibt es verschiedene Organisationen, die bei der Suche helfen. LGBTQI*-Personen können sich beispielsweise an die Schwulenberatung Berlin oder den Verband für lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, intersexuelle und queere Menschen in der Psychologie wenden, für BIPoC gibt es unter anderem die Organisationen My Urbanology, Black in Medicine und Each One Teach One. Schigl und Nowothnig sind zudem optimistisch, dass ein Wandel in der Psychotherapie stattfinden kann. So beobachtet Nowothnig, dass jüngere Generationen bereits eine große Sensibilität gegenüber Diskriminierung mitbringen. Sie hofft, dass diese es schaffen, dass die Grundlagen und Methoden der psychotherapeutischen Ausbildung überarbeitet werden. „Die Psychotherapie braucht einen Paradigmen-Wechsel”, sagt Nowothnig. „Therapie brauchen schließlich Menschen, denen es nicht gut geht. Dass gut auf Probleme eingegangen wird, die diskriminierte Personen betreffen, ist daher eine Grundvoraussetzung.”  

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