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Protokoll einer Cannabis-Patientin
Am 10. März 2017 trat in Deutschland ein Gesetz in Kraft, das Ärzten erlaubt, Cannabis als Medikament zu verschreiben und Patienten, dieses zu konsumieren – ohne Gegenstimmen oder Enthaltungen im Bundestag. Seitdem dürfen sich Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen von ihrem Arzt Cannabis verschreiben lassen, wenn ein positiver Einfluss auf den Krankheitsverlauf erwartet wird. Die Krankenkassen müssen die Therapie erstatten. Die Nachfrage nach medizinischem Cannabis ist seither stark angestiegen, auch wenn es nach wie vor sehr wenige evidenzbasierte Studien gibt, die die Wirksamkeit von Cannabis als Medikament bestätigen oder bestreiten.
Karina Sturm leidet an einer seltenen und schweren Erkrankung namens Ehlers-Danlos-Syndrom, durch die sie arbeitsunfähig wurde. Sie hat besonders mit starken und chronischen Schmerzen zu kämpfen. Bislang konnte sie die nur mit herkömmlichen Schmerzmitteln, etwa wie Ibuprofen, behandeln. Seit einem Jahr nimmt sie gegen die Schmerzen Cannabis. Hier erzählt sie, welche Wirkung das Medikament auf sie hat, mit welchen Vorurteilen sie kämpfen muss und was sich für sie verändert hat.
Die Haltung zu Cannabis
„Meine Haltung zu Cannabis hat sich komplett geändert. Durch meine Erziehung in der Kindheit und Jugend war ich komplett darauf getrimmt, dass Cannabis eine Droge ist und man so etwas nicht nutzt. Ich habe als Jugendliche auch nie an einem Joint gezogen. Ich hatte das Vorurteil, dass das eine Einstiegsdroge ist, dass nur ganz verruchte Gestalten das nehmen.
Seitdem ich es selbst nehme, hat sich das komplett ins andere Extrem gewandelt. Natürlich bin ich schon auch noch skeptisch. Ich sehe, dass es Menschen gibt, die damit high werden wollen. Ich suche kein High, denn mein Kopf funktioniert eh schon nicht so richtig toll: Ich kann mich schwer konzentrieren, da kann ich kein Mittel brauchen, das das noch verstärkt. Ich suche nur die schmerzstillende Wirkung. Aber ich denke, man muss da besser differenzieren: zwischen den Spass-Nutzern und denen, die es nehmen, um ihre Schmerzen zu regulieren. Und viele Leute vermischen das im Kopf. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal zur Cannabis-Advokatin werden würde. Aber ich mache, was sein muss, um wenigstens ein bisschen an Lebensqualität zu gewinnen.“
Die Krankheit
„Ich leide an einer sehr seltenen Krankheit namens Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS), eine angeborene Bindegewebserkrankung. Bindegewebe ist dummerweise überall im Körper: in den Bändern, in Blutgefäßen, den Organen und natürlich der Haut. Das bedeutet, die Krankheit kann den ganzen Körper betreffen und tut das bei jedem Betroffenen anders. Meist haben Menschen mit EDS eine Überbeweglichkeit von Gelenken, jeder von uns ist chronischer Schmerzpatient und unsere Hauptsymptome sind zudem chronische Müdigkeit und Erschöpfung. Und zu allem Überfluss kommt EDS selten alleine: Ich habe insgesamt 15 chronische Krankheiten.
Meine instabile Halswirbelsäule löst immer wieder schlimme neurologische Probleme aus, die zum Teil lebensbedrohlich sind. Eigentlich müsste meine Halswirbelsäule versteift werden. In Deutschland habe ich aber keinen Arzt, der mich behandeln würde, weil ich eine sogenannte Hochrisiko-Patientin bin. Es hat alleine Jahre gedauert, eine Diagnose zu bekommen. Nachdem meine Halswirbelsäule immer schlimmer wurde und mir in Deutschland kein Arzt helfen konnte, bin ich 2014 in die USA geflogen, um dort alternative Therapien auszuprobieren. Dort wurde ich dann zu einem Arzt geschickt, der einer der erfahrensten Neurochirurgen in Bezug auf die Halswirbelsäulen-Operation bei EDS ist. Nach drei Stunden im Behandlungsraum hat er mir dann die Diagnose gegeben. Endlich wusste ich, warum es mir so schlecht ging – in Deutschland hat mir ja kaum jemand überhaupt geglaubt.
Ich habe das alles aus eigener Tasche bezahlt. Mittlerweile müssen das so zwischen 20.000 und 25.000 Euro gewesen sein – mein gesamtes Erspartes, mit dem ich eigentlich eine Weltreise machen wollte.“
Die konservative Behandlung
„Ich habe wirklich alles versucht, um meine Schmerzen in den Griff zu bekommen: Ich habe drei Mal pro Woche Therapie gemacht, ich habe Nahrungsergänzungsmittel genommen, aber meine Schmerzen sind immer stärker geworden und ich musste immer mehr Ibuprofen nehmen, um sie zu ertragen. Irgendwann habe ich so hohe Dosen eingenommen, dass mein Magen das nicht mehr mitgemacht hat. Ich musste also umsteigen, es wurden mir diverse Schmerzmedikamente verschrieben. Aber wegen einer Mastzellaktivierungserkrankung vertrage ich viele Medikamente nicht. Sehr schnell wurde mir dann von mehreren Ärzten in Deutschland gesagt: ‚Wollen wir es mit Opiaten versuchen?‘ Aber das hätte für mich sehr viele zusätzliche Nebenwirkungen bedeutet – neben den üblichen, wie Verstopfung und Abhängigkeit. Dazu kommt mein Alter: Ich bin jetzt 30 – wo soll ich denn da noch hinkommen, wenn ich jetzt schon Opiate nehme? In der Schmerzmedizin sind Opiate das Ende der Fahnenstange.“
Cannabis als Medikament
„Wenn du kurz davor stehst, Opiate zu nehmen, weil dir sonst nichts mehr hilft, ist Cannabis vielleicht eine Alternative. Es gibt natürlich auch viele Menschen, denen es nicht hilft. Cannabis wirkt ganz gut bei Schmerzen, die durch Nervenschädigungen entstehen. Aber ob es bei Muskel- oder Entzündungsschmerzen hilft, ist nicht wirklich gewährleistet. Es gibt einfach noch zu wenige Studien.
Als in Deutschland im März 2017 die Regelungen gelockert wurden, beschloss ich, dass ich Cannabis probieren möchte. Also fragte ich meine deutschen Ärzte, aber die sind dem gegenüber leider immer noch extrem zurückhaltend oder ablehnend eingestellt. Viele meinten, sie wollten keine Abhängigen mit ihrem Zeug versorgen. Dazu kommt, dass es bei Cannabis noch keine Langzeitstudien gibt wie bei anderen Medikamenten. Man weiß, dass es bei einigen Schmerzarten hilft, aber nicht unbedingt, warum.
Ich lebe inzwischen teilweise in den USA und habe mir dort eine Lizenz besorgt und es ausprobiert. In Deutschland habe ich Cannabis erst vor einigen Wochen beantragt, weil ich eben vorher keinen Arzt gefunden habe, der mir das verschreiben wollte. Jetzt habe ich einen, der mich darin unterstützt – und der Antrag ging bei der Krankenkasse auch sofort durch. Das hat mich ehrlich gesagt gewundert, weil ich da normalerweise um alles kämpfen muss. Ich glaube allerdings nicht, dass die Kassen jetzt plötzlich lockerer sind, sie hatten wohl in meinem Fall einfach keine andere Wahl. Ich bekomme jetzt ‚Sativex‘, das ist ein Spray mit einem THC-CBD-Verhältnis von 1:1. Zur Auswahl stehen in Deutschland noch Tropfen mit einem hohen THC-Gehalt und Blüten zum Rauchen. Aber Rauchen will ich nicht, weil die Einzeldosis sich da einfach nicht gut einschätzen lässt – und ich will immer die gleiche Dosis.“
Der Wirkstoff
„In Cannabis gibt es zwei Wirkstoffe: THC (Delta9-Tetrahydrocannabinol), das macht den Rausch, und CBD (Cannabidiol), das wirkt auf den Körper. Um Schmerzen zu behandeln, braucht man in der Regel beides. Ich nehme ein Präparat, das einen Wirkstoffgehalt von 1:1 hat. Dadurch habe ich keine psychoaktive Wirkung. Menschen, die high werden wollen, nehmen Cannabis in einer viel höheren THC-Konzentration zu sich.“
Die Wirkung
„Für mich ist Cannabis nur positiv, ich spüre keine einzige Nebenwirkung. Ich nehme Tropfen, die innerhalb von zehn Minuten wirken und meinen Schmerz um 50 Prozent oder mehr reduzieren. Auf so einen Wert bin ich auch mit den höchsten Dosen von Ibuprofen nie gekommen. High werde ich nicht. Wenn ich das Cannabis höher dosiere, werde ich müde, ich schlafe besser und wache morgens ausgeruht auf. Durchschlafen konnte ich mit den Schmerzen früher nie, dank der Tropfen geht das jetzt.
Wobei ich da einschränken muss: Auch wenn mir das Cannabis hilft, kann ich jetzt kein normales Leben führen. Ich bin fast den ganzen Tag zu Hause, aber mit den Tropfen ist der Schmerz auf einem Level, dass ich nicht die ganze Zeit darauf achte. Dann schaffe ich wenigstens ein bisschen was – kann mal für eine Stunde am Rechner arbeiten und mich konzentrieren.“
Der Unterschied Deutschland – USA
„In den USA habe ich einen Ausweis, mit dem ich meine Berechtigung als Cannabis-Konsumentin nachweisen kann, aber nachdem es mittlerweile in Kalifornien erlaubt ist, brauche ich nur einen Personalausweis oder Reisepass. Verschrieben wird Cannabis in den USA von einer Extragruppe von Ärzten, die nichts anderes machen, als Genehmigungen auszustellen. Dafür entscheiden sie, ob du eine Indikation erfüllst, allerdings ist die Liste sehr lang. Mit meiner Liste an Diagnosen habe ich sofort die Genehmigung bekommen. Damit geht man in eine Dispensary – das ist wie eine Apotheke, in der ausschließlich Cannabis verkauft wird. Bei einer solchen meldet man sich an und verpflichtet sich, dass man es nur dort bezieht und auch nicht weiterverkauft. Es gibt ein Tageslimit, aber das ist ziemlich hoch. Ich muss das Cannabis in den USA selbst zahlen. Aber das ist nicht schlimm, denn es ist ziemlich preiswert. Für ein Fläschchen zahle ich 50 Dollar, aber bei meiner niedrigen Dosierung reicht mir das auch zwei Monate.
In Deutschland brauche ich ein Betäubungsmittelrezept vom Arzt. So ein spezielles Rezept braucht man für alle starken Medikamente, wie zum Beispiel Morphium – und jetzt eben auch Cannabis. Mit dem Rezept geht man zur Apotheke und bestellt es. Theoretisch kann man es privat bezahlen, wenn die Kasse die Kosten nicht übernimmt. Aber das geht ordentlich ins Geld, weil Cannabis in Deutschland wahnsinnig teuer ist. ‚Sativex‘ würde mich 400 Euro kosten – für ein Spray, das drei bis vier Wochen vorhält. Das könnte ich mir nicht leisten. Momentan gibt es bei den Apotheken für Blüten wohl eine bis zu drei Monaten dauernde Wartefrist. Ich glaube, das liegt einfach daran, dass es so unglaublich viele Schmerzpatienten gibt und ganz viele von denen keine wirksamen Medikamente haben. Natürlich wollen die jetzt ausprobieren, ob Cannabis ihnen hilft – zu Recht. Andere wollen vielleicht von Opiaten wegkommen, hin zu einen verträglicheren Medikament. Ein Schmerztherapeut hat mir erzählt, dass momentan jeder seiner Patienten Cannabis haben will.“
Die Reaktionen der anderen
„Alle in meiner Familie und in meinem Freundeskreis wissen, dass ich Cannabis nehme – ich schreibe darüber auch auf meinen Websites. Ich mache das schließlich legal, warum sollte ich das verstecken? Die meisten Menschen, denen ich davon erzähle, sind sehr interessiert und offen. Und meine Freunde wissen sowieso, dass ich mir das vorher sehr genau überlegt habe. Insofern fühle ich mich auch nicht stigmatisiert, auch wenn es bestimmt immer noch genug Leute gibt, die das Klischee vom lebensunfähigen Kiffer im Kopf haben – ich war ja selbst so jemand. Aber ansonsten hatte ich bisher keine negativen Begegnungen. Außer mit Ärzten: Die sagen, das sei eine Droge.“
Karina Sturm schreibt auf ihrem Blog Holy Shit I Am Sick über ihr Leben mit einer chronischen Krankheit und ihre Erfahrungen mit Cannabis.