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Studie: Cannabiskonsum kann das Risiko für Psychosen erhöhen
Cagla G. war 24 Jahre alt, als es ihr „die Sicherung rausgehauen hat“. So beschreibt sie heute das, was bei später als substanzinduzierte Psychose diagnostiziert wurde. Zu diesem Zeitpunkt konsumierte Cagla vier Jahre lang. Zuerst Alkohol, dann Cannabis, Amphetamin und Kokain. Cagla sagt, auf einmal habe sie Stimmen gehört. „Ich dachte, ich bin im dritten Weltkrieg und werde von Spionen einer feindlichen Macht überwacht.“ Auch als sie nüchtern war. Immer mehr Stimmen seien dazu gekommen. Sehr oft hörte Cagla die Stimme ihrer Mutter. Erst da sei ihr aufgefallen, dass etwas nicht stimmen kann. Caglas Mutter liegt seit sieben Jahren im Koma.
Vier Jahre vor Caglas erster Psychose erlitt ihre Mutter einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt. Die Diagnose sei nicht eindeutig gewesen. Der Krankenwagen habe zwölf Minuten gebraucht. Das Gehirn von Caglas Mutter habe in dieser Zeit keinen Sauerstoff bekommen. Als ihre Mutter nicht mehr aufwachte, fing Cagla an, zu trinken. Dann kam schnell Cannabis dazu. Jeden Tag so viele Joints, dass sie heute nicht mehr sagen kann, wie viele eigentlich genau. Danach Amphetamin, dann Kokain. Sie habe vergessen wollen. Nicht feiern, das sei kein Thema für sie gewesen. Die Drogen nahm Cagla im Alltag. Gegen die Langeweile, gegen die Traurigkeit, um die Wohnung aufzuräumen und um fit für die Arbeit zu sein. Dann kamen die Stimmen, die Spione und der dritte Weltkrieg.
Cagla ist mittlerweile 27 und lebt seit neun Wochen in der Nussbaumklinik in München, der psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilian-Universität. Es ist mittlerweile ihr vierter Klinikaufenthalt. In der Klinik herrscht wegen der Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus ein Besuchsverbot. Cagla erzählt am Telefon, dass sie das belastet. Ihr Vater und ihre Geschwister würden ihr gerade viel Halt geben.
„Alles hat zu mir gesprochen“, sagt Cagla. „Tiere, Gegenstände, Menschen im Fernsehen“
Cagla sagt, dass sie nach ihrem ersten Klinikaufenthalt im Jahr 2016 keine chemischen Drogen mehr angerührt hat. Gekifft habe sie weiterhin. Nicht täglich, aber „sehr regelmäßig“. Die Psychosen blieben, sie ging abermals in die Klinik, wurde entlassen, eine Zeit lang war dann alles gut, bis irgendwann die Stimmen wieder kamen. Zuletzt sei das Anfang September 2020 der Fall gewesen. Cagla wohnte zu diesem Zeitpunkt wieder daheim bei ihrem Vater und ihren Geschwistern. Da hätte es wieder angefangen. „Alles wird mit einem selbst verknüpft“, sagt Cagla. In der Therapie habe sie den Begriff „Ich-Störung“ kennengelernt. Das beschreibe das, was man da erlebt, ganz gut. Man sehe sich selbst als Zentrum der Welt und könne nicht mehr sagen, was gerade wirklich passiert. „Alles hat zu mir gesprochen“, sagt Cagla. „Tiere, Gegenstände, Menschen im Fernsehen.“
Oliver Pogarell ist der stellvertretende Leiter der Nussbaumklinik und Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie. „Die Psychose war früher ein Sammelbegriff für eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen“, sagt er. „Heute bezeichnet man damit Störungen, bei denen die Wahrnehmung zum Beispiel durch Sinnestäuschungen beeinträchtigt ist. Es können Wahnvorstellungen und Ich-Störungen auftreten.” Das heißt, dass sich der Realitätsbezug verschiebt und Betroffene nicht mehr wissen, was gerade wirklich passiert oder nur im eigenen Kopf abläuft. “Solche Phänomene, die im normalen Erleben oder Verhalten nicht auftreten, werden als psychotisch bezeichnet”, sagt Pogarell.
„Zum Fall von Cagla sagt Pogarell, dass es kein Einzelfall in der Nussbaumklinik sei. In den letzten Jahren stieg die Anzahl der Personen, die wegen eines problematischen Cannabiskonsums bei uns aufgenommen wurden deutlich an.” Etwa ein Viertel dieser Personen hätte über psychotische Symptome berichtet.
Eine Psychose kann viele Auslöser haben. „Es gibt nie nur den einen“, sagt Pogarell. Aber: „Je mehr konsumiert wird, desto höher ist das Risiko.“ Cannabis kann Psychosen auslösen. Genauso wie Alkohol, Koffein oder härtere Drogen wie MDMA, Kokain und LSD. Psychische Erkrankungen wie eine Schizophrenie können ebenfalls Psychosen auslösen, auch psychische Störungen in der Familie, der Verlust eines geliebten Menschen oder Traumata in der Kindheit.
2007 belegte eine Studie der University of Bristol, dass die Wahrscheinlichkeit, an einer Psychose zu erkranken, bei täglichem Cannabis-Konsum um das zweifache erhöht wird. Aber: „Eine Psychose nur auf Cannabis zurückzuführen, ist kaum möglich“, sagt Pogarell. Vor allem, wenn Konsument*innen wie Cagla polytoxisch unterwegs sind. Polytoxisch ist Fachsprache für „sehr viele Drogen nehmen“.
Drogen greifen in den Stoffwechsel des Gehirns ein, deshalb können sie Psychosen auslösen. „Drogen wirken auf Botenstoffsysteme im Gehirn modulierend ein“, sagt Pogarell. Das heißt, dass Drogen Prozesse im Gehirn verändern. „In bestimmten Regionen im Gehirn werden beim Konsum Vorgänge verstärkt, wie zum Beispiel im Dopamin-System, das beim Cannabis-Konsum überstimuliert wird.“ Dopamin aktiviert das Belohnungszentrum im Gehirn. Das lässt Konsument*innen high werden, eine Dopaminüberaktivität kann aber auch zu Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen führen.
„Eine Nebenerscheinung der Legalisierungs-Debatte ist, dass zum Zusammenhang von Cannabis und Psychosen immer mehr geforscht wird”, sagt Pogarell. 2019 untersuchten Wissenschaftler*innen in einer Studie, wie sehr das Psychose-Risiko in europäischen Großstädten, in denen besonders potentes Cannabis verkauft wird, steigt. In Amsterdam, wo Cannabis legal verkauft wird und deshalb auch mit sehr hohem THC-Gehalt verfügbar ist, rauchte jeder zweite Psychotiker täglich Cannabis.
„Es gibt Menschen, die vertragen sehr viel im Hinblick auf Psychosen“
„Man kann im Einzelfall nicht vorhersagen, welche Konsument*innen Psychosen erleiden”, sagt Oliver Pogarell. Man könne aber sagen, dass durch den Konsum von Cannabis das Risiko, eine Psychose zu erleiden, im Durchschnitt um das doppelte steige. Außerdem gäbe es Faktoren, bei denen Menschen besonders anfällig für Psychosen sind. Wenn man sich gerade in einer Depression befindet, wenn es psychische Erkrankungen in der Familie gibt oder im jungen Alter, wenn das Gehirn noch nicht ausgewachsen ist.
Wie hätte man Caglas Fall verhindern können? Wenn man sie oder Oliver Pogarell das fragt, dann kommt von beiden die gleiche Antwort: „Keine Drogen nehmen“. Wenn man fragt, was genau Caglas Psychosen ausgelöst haben könnte, ebenfalls: „Kann man nicht genau sagen.“ Kein Mensch weiß, ob Cagla nicht sowieso durch das traumatische Erlebnis mit ihrer Mutter in psychotische Zustände geraten wäre. Beide sagen, dass die Dosis das Gift mache. „Je mehr konsumiert wird, desto höher ist das Risiko“, sagt Pogarell. „Es gibt Menschen, die vertragen sehr viel im Hinblick auf Psychosen, es gibt aber auch Menschen, die bei ihrer ersten Drogenerfahrung eine Psychose erleben.“ Cagla sagt: „Irgendwie kam bei mir ja schon vieles zusammen“ – chemische Drogen, Alkohol, Cannabis und eine Mutter, die vielleicht nie wieder wach wird.
Wenn man Cagla am Telefon fragt, ob Cannabis legalisiert werden sollte, dann schweigt sie lange. „Ich bin mit Drogen nie vernünftig umgegangen“, sagt sie. „Ich habe viel hochgezüchtetes Zeug geraucht und generell von allem viel zu viel genommen. Ich war süchtig. Deshalb finde ich es schwierig, von meinem Fall auf alle zu schließen.“ Nach ihrer Therapie in der Nussbaumklinik wird Cagla im Januar 2021 in eine Suchtklinik an der Nordsee verlegt werden. Danach will sie eine Ausbildung im Einzelhandel machen, am liebsten wieder eine eigene Wohnung und vor allem: „Nie wieder Drogen nehmen und nicht mehr diese Stimmen hören.“